Was gibt es da zu feiern? Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017

Was gibt es da zu feiern? Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017

Kassman

Vortrag der Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017 Prof. Dr. Dr. h.c. Margot Käßmann  Evangelische Fakultät Prag 25. März 2014

Zunächst bedanke ich mich für die Einladung, hier an der evangelisch-theologischen Fakultät in Prag sprechen zu dürfen. Ich habe mich sehr auf diesen Besuch gefreut. Uns ist in Deutschland sehr bewusst, dass 2017 ein Symboldatum ist und Luther eine Symbolfigur der Reformation. Es gab Reformatoren vor ihmwie etwa Jan Hus, den Luther ja eigens gewürdigt hat. In diesem Jahr, in dem sich der Beginn des Konstanzer Konzils jährt, gab es bereits eine sehr gut besuchte Veranstaltung zu Jan Hus in Berlin und im kommenden Monat wird eine große Landesausstellung in Konstanz eröffnet, die das Konzil und das Erbe von Hus thematisiert. So ist es besonders schön, 2014 hier zu sein und zu schauen: 2017, Was gibt es da zu feiern?

Historisch ist inzwischen höchst zweifelhaft, ob Luther seine 95 Thesen tatsächlich an die Tür der Schlosskirche nagelte, ob es ein anderer war oder sie lediglich vervielfältigt wurden. Zudem wird der Beginn der Reformation eher auf die Verbrennung der Bannbulle 1520 festgelegt, 1517 war Luther – wie wir heute sagen würden – ein „Reformkatholik“. Seine Thesen zum Ablasshandel könnten die meisten römischen Katholiken im 21. Jahrhundert abzeichnen.

Und: Ist die Feier eines Reformationsjubiläums überhaupt angemessen? Kann denn eine Spaltung gefeiert werden? Schließlich: Machen wir uns doch die Schattenseiten der Reformation bewusst, sehen, wie sehr Luthers Antijudaismus die Kirche, die sich nach ihm benannte, auf einen Irrweg führte. Sollte eine Kirche, die mit zurückgehenden Mitgliedszahlen, Spar- und Strukturdebatten zu kämpfen hat, überhaupt feiern? Darf es einen „Event“ geben, wo doch eigentlich so viele Rückschläge zu verzeichnen sind?

Das sind vier von vielen Anfragen an das Reformationsjubiläum, die mich immer wieder erreichen. Lassen Sie mich versuchen, einige Antworten im Spannungsfeld zwischen Gedenken und Gestalten zu skizzieren, die stets auch die Frage nach unserer reformatorischen Existenz heute stellen.

Bevor ich das tue, will ich aber einen kleinen Überblick über den Stand der ganz konkreten Planungen geben. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich entschlossen, in Kooperation mit staatlichen Stellen und Tourismusverbänden eine Lutherdekade ins Leben zu rufen, die in den Jahren 2008 bis 2016 auf das Reformationsjubiläum hinführt und es vorbereitet. So gab es bereits folgende Jubiläumsjahre:

2008 wurde die Dekade eröffnet. Bischof Huber sagte in seiner Festrede zur Eröffnung der Lutherdekade am 21. September: „So sehr wir Luthers Beitrag zur deutschen Kultur, insbesondere die Prägekraft, mit der er die deutsche Sprache gestaltet, würdigen, so wenig Anlass haben wir, die Überlegenheitsgesten zu wiederholen, mit denen Martin Luther und ein vermeintliches „deutsches Wesen“ zusammengebracht wurden. Deutsche im Inland wie auch im Ausland wurden unter Berufung auf Luther lange Zeit dazu verführt, Patriotismus und Nationalismus miteinander zu verwechseln.“

2009 hatte „Reformation und Bekenntnis“ als Schwerpunktthema mit besonderem Akzent auf dem Reformator Johannes Calvin.

2010 widmete sich dem Thema „Reformation und Bildung“ mit besonderem Akzent auf dem Reformator Philipp Melanchthon. Das Bildungsthema findet weite Aufmerksamkeit auch im säkularen Umfeld, etwa beim 11. Mal des Thüringer Bildungssymposiums, das 2012 vorbereitet wurde. Auf Luthers Aufforderung an den „christlichen Adel deutscher Nation“, Schulen für alle zu gründen, auf sein Verständnis von Bildungsgerechtigkeit und Bildungsteilhabe, wird in aktuellen Diskussionen immer wieder Bezug genommen. In Gotha, der ersten deutschen Stadt, die die „Volksschule“ für alle verwirklichte, ist in einer Ausstellung zu sehen, welche Veränderungen das mit sich brachte. Im internationalen Horizont werden derzeit evangelische Schulen in aller Welt vernetzt. Bei einem Koordinierungstreffen in Eisenach wurde deutlich, wie viele nach Martin Luther benannte Schulen es allein in Afrika gibt.

2011 fragte das Themenjahr „Reformation und Freiheit“ nach den Wurzeln der Freiheit. Was bedeutet die Freiheit eines Christenmenschen im 21. Jahrhundert – niemandem untertan und doch jedermann untertan? Und: Ist die Kirche der Reformation heute aktuell „Kirche der Freiheit“, wie ein Reformpapier der EKD vor einigen Jahren erklärte? Manche römische Katholiken sahen das als Affront, könnte doch im Gegenschluss ihre Kirche als eine Kirche der Unfreiheit gesehen werden. Die Frage, wie sich reformatorische Freiheit heute zeigt, wurde innerhalb vieler Landeskirchen theologisch mit der Wertschätzung des „Priestertums aller Getauften“ beantwortet. Fast flächendeckend fanden Tauferinnerungen und Tauffeste statt.

2012 „Reformation und Musik“. In diesem Jahr wurde in der Thomaskirche in Leipzig das 800-jährige Jubiläum von Kirche, Chor und Schule gefeiert – an dem Ort, an dem Johann Sebastian Bach von 1723 bis 1750 als Kantor wirkte. Die Reformation wurde als Singebewegung wiederentdeckt und viele Gemeinden landauf, landab sahen sich als Teil des Jahres. Auch andere, säkulare Veranstaltungen wie etwa die Händelfestspiele in Halle haben sich in das Jubiläumsjahr eingereiht.Und in diesem Jahr wurde u. a. durch die Aktion „366+1 – Kirche klingt“ besonders deutlich, dass viele Gemeinden die Themen in der Jubiläumsdekade gern aufgreifen, weil sie somit Inhalte beraten können und nicht nur Finanzen und Strukturen.

2013 lautete das SchwerpunktthemaReformation und Toleranz“. Damit wird auch ein Blick auf die Schattenseiten des Reformationszeitalters mit seinen zum Teil irritierend scharfen Abgrenzungen und auf die Lerngeschichte, die daraus folgte, gelenkt. In vielen Einzelbeiträgen und Veranstaltungen wurde beleuchtet, was Toleranz bedeutet angesichts des Antijudaismus Martin Luthers mit seinen verheerenden Folgen für die Kirche, die sich nach ihm benannte, in der Zeit des Holocaust. Wo liegt die Grundlage der Toleranz, wie finden wir vom Dulden über das Respektieren bis hin zur Wertschätzung unterschiedlicher Konfessionen und Religionen?

2014 konzentriert sich auf das Verhältnis von „Reformation und Politik“. Wie sieht es aktuell aus mit der Spannung zwischen „der Obrigkeit untertan sein“ und „Gott mehr gehorchen als den Menschen“? Dürfen Kirchen politisch reden und handeln? Müssen sie es vielleicht gar? Über diese grundsätzlichen theologischen Fragen hinausgehend erreichen in diesem Jahr die Themen, die durch das Subsidiaritätsprinzip vom Evangelischen Kindergarten bis zur Evangelischen Hochschule auf der Agenda stehen, einen höheren Aufmerksamkeitsgrad. Und einhundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges wird auch das Verhältnis der Evangelischen zu Krieg und Frieden eine Rolle spielen. 2017 wird ein Jubiläum gefeiert, das zwei verheerende Kriege gesehen hat und sich fragen muss, welche Konsequenzen diese Erfahrungen für die Verkündigung haben.

2015 widmet sich anlässlich des 500. Geburtstags von Lucas Cranach dem Jüngeren dem Thema „Reformation – Bild und Bibel“. Die Bilder Cranachs hatten für viele Menschen eine große Bedeutung und Wirkung gerade in einer Zeit, in der viele nicht lesen konnten. Das Verhältnis der reformatorischen Kirche zu Kunst und Kultur wird hier besondere Aufmerksamkeit erhalten. Zugleich wird der Weg der Verkündigung bzw. religiösen Kommunikation in den bewegten Bildern und dem unbegrenzten Internet reflektiert werden: Wie kommt eine Religion in einer Welt voller Bilder zu Stand und Wesen die im Reden und Hören ihren inneren Schwerpunkt hat?

2016 wird die „Reformation und die Eine Welt“ zum Thema haben, also die Frage danach, was Reformation bedeutet in einer globalisierten Welt und in einem Zeitalter der weltweiten Ökumene.

Jedes Themenjahr wurde bzw. wird mit einer zentralen Veranstaltung von Gottesdienst und staatlichem Festakt eröffnet, zugleich wird seit 2008 Jahr für Jahr die sog. „Luthermedaille des Rates der EKD“ als öffentlich wahrnehmbares Zeichen der Würdigung von herausragendem Engagement für den deutschen und weltweiten Protestantismus verliehen. Man wird ohne Übertreibung sagen können, dass in den letzten 10 Jahren der Reformationstag eine intensive geistliche Würdigung und auch eine neue Beachtung in der Gesellschaft als „Identitätstag der reformatorischen Kirche“ erlangt hat.

Münden soll die Dekade in die zentralen Feierlichkeiten, die mit dem Reformationstag am 31.10.2016 ihren Auftakt nehmen werden und am 31. Oktober 2017, dem eigentliche Jubiläumstag, enden sollen.

Für dieses Jubiläumsjahr sind bisher fünf Säulen erkennbar:

-       Als erstes die Eröffnung am 31.10.2016, für den eine feierliche Eröffnung des Festjahres in Berlin angedacht ist.

-       Dieser Reformationstag wird auch der Startpunkt für einen zweiten, stark partizipativen und internationalen Pfeiler des Jubiläums sein, den sog. Stationenweg. In vielen Reformationsstädten Deutschlands und Europas werden die Erinnerungen an die je lokale Reformationsgeschichte verbunden mit einer Aktualisierung, die die gegenwärtige Bedeutung des reformatorischen Themas andeutet. Die Orte werden eingeladen, ihre ganz spezifischen, inhaltlichen Zugänge zur Reformation zu zeigen: in Speyer anders als in Marburg, in Worms anders als in Genf, in Straßburg anders als in Prag.

-       Zum Dritten mündet der Stationenweg in einen großen Festgottesdienst , der vor den Toren Wittenbergs am 28. Mai 2017 gefeiert wird als Abschluss des Berliner Kirchentages sowie der regionalen Kirchentage, die als „Kirchentag auf dem Wege“ in einigen Städten Mitteldeutschlands vorbereitet werden. Die Zusammenarbeit der EKD mit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag ist in dieser Weise ein Novum.

-       Mit diesem Gottesdienst beginnt offiziell die „Weltausstellung der Reformation“ in und um Wittenberg, wobei die Lutherstadt Wittenberg selbst das „Ausstellungsgelände“ werden wird. Was auf dem internationalen Stationenweg wahrgenommen und eingesammelt, gelernt und erkannt wurde, kann ebenso ausgestellt werden wie andere Beiträge aus anderen Kirchen, aus dem Bereich der Kultur und der Zivilgesellschaft. Für 95 Tage im Sommer 2017 sollen in und um Wittenberg die Vielfalt, aber auch die innere Einheit und die perspektivische Bedeutung der reformatorischen Bewegung erlebbar werden, die vor 500 Jahren die Welt bewegte und für das 21. Jahrhundert kraftvolle und heilsame, orientierende und tröstende Wirksamkeit entfalten will. Zu sehen und zu erleben sein werden hoffentlich Beiträge aus Chicago und China, aus Tansania und Tunesien, aus Brasilien und Brüssel. Der Begriff „global village Wittenberg“ wurde während eines Kongresses in Zürich im letzten Oktober geprägt. Dorthin hatten der Schweizer Evangelische Kirchenbund und die Evangelische Kirche in Deutschland ihre Partnerkirchen eingeladen, um zu überlegen, wie wir das Reformationsjubiläum gemeinsam für uns fruchtbar machen können.

-       Die Herausforderung, mitten in einer der „meistentkirchlichten“ Gegenden Europas ein solches Jubiläum zu feiern, ist gewaltig. Dennoch wollen die mitteldeutschen Kirchen gute Gastgeber sein. Zu dieser Weltausstellung gehört ein Jugendcamp, denn am Ende geht es darum, dass die junge Generation die Reformation und auch die Städte der Reformation entdeckt. Dort wird es Konzerte und Filmfestivals geben, auch Gottesdienste und Gebete und natürlich Diskussionen über Gott und die Welt. Ein Sommerlager mit Tanzen und Beten, Singen und Reden, Lachen und Lieben wird für Jugendliche aus vielen Ländern ein unvergessliches Reformationserlebnis werden.

-       Am 31. Oktober 2017 werden national und international an vielen reformatorisch gewichtigen Orten offizielle und öffentliche Festakte begangen werden, die dem Symboldatum angemessenen Glanz und Aufmerksamkeit geben. In Deutschland hat sich schon (fast) die Meinung durchgesetzt, dass dieser Tag einmalig ein gesetzlicher Feiertag werden sollte, sodass auch auf diese Weise die besondere Bedeutung unterstrichen wird. Natürlich wird zu vermuten sein, dass in der Schlosskirche der Lutherstadt Wittenberg als dem vermeintlichen Originalort des Thesenanschlages ein feierlicher Staatsakt stattfinden wird.

Soweit ein Einblick in die bisherigen Vorbereitungen und Planungen. Aber wir müssen ja auch inhaltlich fragen: Was bedeutet ein Reformationsjubiläum im Jahr 2017? Was gibt es da zu feiern? Lassen Sie mich im Folgenden zehn Aspekte aufgreifen, die ich für relevant halte.

 

1. Kritischer Rückblick

Die Reformationsjubiläen und das Luthergedenken in Deutschland waren stets von ihrer Zeit geprägt[1]. 1617 diente der konfessionellen Selbstvergewisserung. 1717 wurde Luther einerseits zum frommen Mann der Pietisten, andererseits als Frühaufklärer gegen mittelalterlichen Aberglauben stilisiert. 1817 wurde als religiös-nationale Feier inszeniert in Erinnerung der Völkerschlacht bei Leipzig 1813, Luther wurde zum deutschen Nationalhelden. Der 400. Geburtstag 1883 ließ Luther zum Gründungsvater des Deutschen Reiches avancieren und 1917 wurde er schließlich mit Hindenburg gemeinsam zum Retter der Deutschen in Zeiten großer Not. Das Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 umgab Luther zu seinem 450. Geburtstag mit der Aura des gottgesandten Führers bzw. dessen Vorboten. Und als Tröster der Deutschen wurde er an seinem 400. Todestag gesehen – 1946 als Trost bitter notwendig war. 1983 zu seinem 500. Geburtstag gab es eine Art Wettbewerb um das Luthererbe in Ost und West. In der DDR war Luther nun nicht mehr Fürstenknecht, sondern Vertreter der frühbürgerlichen Revolution.

Ein solcher Rückblick muss sensibel dafür machen, dass Reformationsjubiläen heikle Zeitpunkte sind. Wie werden die Generationen nach uns urteilen über 2017? Werden sie sagen, die Protestanten wollten Profil gewinnen auf Kosten anderer? Wird es heißen, es wurde versucht, Öffentlichkeit für den christlichen Glauben zu gewinnen? Oder wird deutlich: Hier wurde sich kritisch und gestaltend, gut protestantisch also, mit dem eigenen Erbe auseinandergesetzt?

Ich bin überzeugt: Es wird keinen „Kult um Luther“ geben, wie manche befürchten. Der Protestantismus in Deutschland und das Luthertum weltweit sind souverän genug, die Schattenseiten ihres großen Vorbildes nicht auszublenden und vor allem, die Reformation nicht auf ihn und seine Person zu beschränken. Denn offensichtlich ist: Die Reformation war eine Bewegung, die viele Jahrzehnte umfasste, 1517 ist ein Symboldatum. Und die Reformation wurde von vielen Menschen betrieben, Martin Luther ist die Symbolfigur. Sehr schön zeigt das ein Altarbild des italienischen Künstlers Gabriele Mucchi, das in der kleinen Kirche von Alt-Staaken am Rande Berlins zu sehen ist. In diesem Wandgemälde sind unter dem gekreuzigten Christus 12 historische Persönlichkeiten versammelt, die im 16. Jahrhundert bei der Erneuerung der Kirche und des Weltbildes eine wichtige Rolle gespielt haben: Nikolaus Kopernikus, Ulrich Zwingli, Johannes Calvin, Ignatius von Loyola, Thomas Morus, Katharina von Bora, Martin Luther, Thomas Müntzer, Johannes Bugenhagen, Philipp Melanchthon, Lucas Cranach, Erasmus von Rotterdam. Das ist ein großartiges Zeichen dafür, dass es um eine breite Bewegung ging, einen enormen Aufbruch. Anrührend finde ich, dass sie alle versöhnt sind unter dem Kreuz auf diesem Bild. Mir war es daher auch wichtig: Nicht Lutherbotschafterin, sondern Botschafterin für das Reformationsjubiläums zu sein! Wir müssen deutlich machen, dass es hier um eine vielfältige Bewegung geht, die Staat und Kirche verändert hat, ja wirksam ist bis heute.

►Es wird wichtig sein, den kritischen Rückblick zu wagen und Reformation als Gesamtgeschehen wahrzunehmen. Dass wir das heute können, ist ein Grund zum Feiern.

 

2. Ökumene

Es ist das erste Jubiläum nach 100 Jahren ökumenischer Bewegung. Das betrifft einerseits den römischen Katholizismus. Die Kirchen der Reformation verstehen sich ebenso wie die römisch-katholische Kirche als Erben der Alten Kirche (Luther, Wider Hans Worst 1541) und so geht es um eine gemeinsame Geschichte. Die Reformationsepoche hat alle verändert. Die römisch-katholische Kirche heute ist nicht dieselbe, mit der Luther und die anderen Reformatoren im 16. Jahrhundert in einen so tiefen Konflikt gerieten. Schon das Konzil zu Trient etwa verabschiedete sich von einem Ablass gegen Zahlung von Geld und das Zweite Vatikanische Konzil im letzten Jahrhundert führte die Messe in der Volkssprache ein. Natürlich, viele der reformatorischen Anfragen etwa an Papsttum, Heiligenverehrung und Amtsverständnis bleiben bestehen. Martin Luther aber wollte seine eigene Kirche reformieren und nicht spalten. Ein rein abgrenzendes Reformationsjubiläum wäre daher nicht sinnvoll.

Weihbischof Jaschke aus Hamburg hat erklärt, Luthers 95 Thesen würden heute auch von römisch-katholischer Seite akzeptiert, und gesagt, er teile Luthers Kritik am damaligen Ablasshandel.[2] Und 1999 wurde in Augsburg die Gemeinsame Erklärung der römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes zur Rechtfertigung unterzeichnet. Es wurde festgehalten: So wie die beiden Kirchen ihre Lehre heute formulieren, werden sie von den Verwerfungen des 16. Jahrhunderts nicht getroffen. Die Unterzeichnung der Gemeinsamen Offiziellen Feststellung zur Gemeinsamen Erklärung in Augsburg am 31. Oktober war ein feierliches Ereignis. Es bedeutet nicht – und das war allen Beteiligten klar –, dass nunmehr die Lehrbegriffe der unterschiedlichen Traditionen auf einem gleichen Verständnis beruhen. Aber die Unterzeichnung wurde begrüßt als ein Schritt auf einem notwendigen Weg der Annäherung. Ein Durchbruch schien nahe nach dem Motto: Diese Erklärung wird die Unterschiede nicht beseitigen, hoffentlich aber zur Möglichkeit führen, einander gastweise zum Abendmahl einzuladen. Dass es gelungen ist, zumindest gemeinsame Formulierungen zu finden zu einer theologischen Frage, an der einst die Einheit zerbrochen ist, dafür können wir dankbar sein.

Insofern besteht die Chance, dem Reformationsjubiläum auch eine deutlich ökumenische Dimension zu geben. Gerade der jüngste Aufruf prominenter römisch-katholischer Laien ermutigt dazu. Denn das ist doch glasklar: Bei aller Differenz und dem je eigenen Profil verbindet uns mehr als uns trennt. Und: In einer säkularisierten Gesellschaft ist ein gemeinsames Zeugnis der Christinnen und Christen von großem Gewicht: Je stärker wir gemeinsam auftreten, desto eher werden wir gehört.

Aber es geht auch um die weltweite Ökumene, die als Bewegung seit 1910 existiert und seit 1948 mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen institutionalisiert ist und auch im Lutherischen und Reformierten Weltbund eine Stimme hat. Wie ist die Verbindung zu den Kirchen in aller Welt? Welchen Beitrag leisten die Evangelischen? Was bedeutet das Jubiläum in Brasilien, in Südafrika, in Tansania? Daher gibt es gute Kontakte mit den großen Kirchenbünden, dem Lutherischen und Reformierten Weltbund sowie dem Ökumenischen Rat der Kirchen.

►2017 wird ein Reformationsjubiläum mit ökumenischer Dimension sein. Das ist neu und ein Grund zum Feiern.

 

3. Dialog der Religionen

2017 ist das erste Gedenkjubiläum des Thesenanschlags nach dem Holocaust. Das Versagen der Christen gegenüber den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus hat eine Lerngeschichte eingeleitet. Heute sagt die Evangelische Kirche in Deutschland: Wer Juden angreift, greift uns an. Nach sechzig Jahren jüdisch-christlichem Dialog, für den ein schönes Zeichen die Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an den Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider war, können wir sehen, dass die Kirche der Reformation dialogfähig ist. Die Reformatoren selbst haben gesagt, die Kirche müsse sich immer weiter reformieren, dies ist ein entscheidender Punkt, der sich in der Lerngeschichte bewahrheitet hat.

Das gilt auch mit Blick auf Muslime. Wetterte Luther wider die Türken, so leben wir heute gemeinsam in einem Land. Gleichzeitig sind Christen in aller Welt die am meisten verfolgte Religionsgemeinschaft. Wir brauchen einen Dialog und er muss theologisch gegründet sein.

Eine Lerngeschichte zeigt sich auch mit Blick auf die sozialen Bewegungen und die Auseinandersetzung zwischen Luther und Thomas Müntzer. Die Frage des Widerstandes zwischen dem Gebot, der Obrigkeit untertan zu sein und dem Gebot, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, wird seit der Zeit des so genannten Dritten Reiches offen und kontrovers diskutiert.

Und mit Blick auf die als Täufer und Schwärmer Verfolgten der Reformationszeit hat es 2010 einen Bußakt und eine Bitte um Versöhnung durch den Lutherischen Weltbund gegenüber den Mennoniten als ihren geistlichen Erben gegeben.

►Zum Reformationsjubiläum 2017 ist es offensichtlich, dass der Dialog der Religionen ein Anliegen des Protestantismus ist. Diese Lerngeschichte kann gefeiert werden.

 

4. Die Soli – Konzentration in säkularer Zeit

2017 werden wir ein Reformationsjubiläum in einer Zeit der Säkularisierung feiern. Dabei können die vier „Soli“ hilfreich sein zur Konzentration und Vermittlung des Glaubens.

Die Säkularisierung macht es schwerer, zu erklären, was Glauben bedeutet. Viele Menschen haben sich abgewendet, ein immenser Glaubens- und auch Traditionsverlust ist im Land der Reformation zu verzeichnen. Viele Menschen haben keinerlei Bezug mehr zu Religion.

Diese Herausforderung sollten die Kirchen der Reformation offensiv annehmen. Sie haben sich ja aus dem geistlichen Leben und biblischen Nachdenken entwickelt. Luthers Klostererfahrung war für ihn ebenso wichtig wie sein Bibelstudium, Zwingli begann 1518 nach einer Zeit im Kloster in Zürich zu predigen. Dabei ist es entscheidend, eine Sprache zu finden, die den Glauben in die heutige Zeit vermittelt, so wie es Luther und auch Zwingli auf je eigene Weise vermochten. Die Übersetzung der Bibel als Gesamtwerk in die deutsche Sprache, die Messe in der Sprache des Volkes, Schriften in deutscher Sprache waren Luther ein zentrales Anliegen, damit Menschen selbst von ihrem Glauben sprechen konnten. Dem „Volk aufs Maul schauen“ bedeutete dabei nicht, ihm nach dem Mund zu reden.

Auch wenn umstritten ist, wie viele „soli“ es waren und wann sie in dieser Kombination entstanden sind: Die Konzentration war hilfreich, um die zentralen Glaubensanliegen zu vermitteln.

Solus Christus – allein Jesus Christus ist entscheidend. Er, nicht die Kirche, hat Autorität für Gläubige.

Sola gratia – allein die Gnade Gottes rechtfertigt dein Leben, nichts, was du tust oder leistest.

Sola scriptura – allein die Schrift, die Bibel, ist Grundlage des Glaubens, nicht Dogmen oder Lehren der Kirche.

Sola fide – allein der Glaube ist entscheidend, wiederum nichts was du tust,

schaffst und auch nicht, woran du scheitern magst im Leben.

►In säkularer Zeit ist es für die Kirchen wichtig, an die Sprachkraft als reformatorisches Erbe anzuknüpfen, um Glauben zu vermitteln. Feiern können wir, wo das gelingt.

 

5. Frauen

Es ist das erste Jubiläum, bei dem die große Mehrheit der evangelischen Kirchen in aller Welt Frauen im ordinierten Amt und auch als Bischöfinnen akzeptiert.

Für Martin Luther wurde immer klarer: Die Taufe ist das zentrale Ereignis und Sakrament. Hier sagt Gott einem Menschen Gnade, Liebe, Zuwendung, Lebenssinn zu. Und alles Scheitern, alle Irrwege des Lebens können das nicht rückgängig machen. Gehen wir zur Taufe zurück, brauchen wir keine Buße, kein Bußsakrament: Wir sind erlöst, wir sind längst Kinder Gottes. „Baptizatus sum“ – ich bin getauft. In den schwersten Stunden seines Lebens hat Martin Luther sich das gesagt und daran Halt gefunden.

Und: Jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Papst, hat Luther erklärt. Von daher hat Luther auch den Respekt gegenüber Frauen entwickelt. Sie sind getauft und damit stehen sie auf gleicher Stufe. Das war in seiner Zeit eine ungeheuerliche Position! Frauen galten als unrein, wenn sie nicht Jungfrau waren, Hexenwahn grassierte – von dem sich Luther allerdings leider nicht entschieden distanzierte. Erst nach langen Debatten wurde Frauen überhaupt eine unsterbliche Seele zugestanden. In solcher Zeit zu sagen: Wir sind getauft und damit vor Gott gleich, war ein theologischer Durchbruch und zugleich eine gesellschaftliche Revolution. Aus diesem Taufverständnis entwickelte sich durch die Jahrhunderte die Überzeugung, dass Frauen in der Tat jedes kirchliche Amt wahrnehmen können. Mir ist es wichtig, die theologischen Hintergründe deutlich zu machen, gerade da, wo von anderen Kirchen die Ordination von Frauen in Pfarr- und Bischofsamt angefragt wird.

Zölibatäres Leben galt als vor Gott angesehener, der gerade Weg zum Himmel sozusagen. Für viele Reformatoren war der Schritt zur Ehe ein Signal dafür, dass auch Leben in einer Familie, mit Sexualität und Kindern von Gott gesegnetes Leben ist. Die öffentliche Heirat von bisher zölibatär lebenden Priestern, Mönchen und Nonnen, war ein theologisches Signal. Die Theologin Ute Gause erklärt, sie sei eine Zeichenhandlung, die „etwas für die Reformation Elementares deutlich machen wollte: die Weltzuwendung und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens“.[3] Nun wird ja den Evangelischen im Land eher unterstellt, dass sie weniger sinnlich seien als die römischen Katholiken oder die Orthodoxie. Die Reformatoren aber wollten gerade deutlich machen: Weltliches Leben ist nicht weniger wert als priesterliches oder klösterliches. Es geht darum, im Glauben zu leben im Alltag der Welt.

Das hat viele Konsequenzen. Eine ist beispielsweise, dass in den ersten Kirchenordnungen der Reformatoren Hebammen aufgewertet werden als Kirchendienerinnen. Eine Frau, die geboren hat, wird nicht mehr als unrein angesehen, sondern sie soll umsorgt und betreut werden.

Luther konnte dabei übrigens ungeheuer modern sein. Es geht darum, ob gestandene Mannsbilder sich lächerlich machen, wenn sie Windeln waschen. Hören wir also mal kurz original Martin Luther:

Wenn ein Mann herginge und wüsche die Windeln oder täte sonst an Kindern ein verachtet Werk, und jedermann spottete seiner und hielte ihn für einen Maulaffen und Frauenmann, obwohl ers doch in […] Christliche[m] Glauben täte; Lieber, sage, wer spottet hier des anderen am feinsten? Gott lacht mit allen Engeln und Kreaturen, nicht, weil er die Windeln wäscht, sondern weil ers im Glauben tut. Jener Spötter aber, die nur das Werk sehen und den Glauben nicht sehen, spottet Gott mit aller Kreatur als der größten Narren auf Erden; ja sie spotten nur ihrer selbst und sind des Teufels Maulaffen mit ihrer Klugheit.[4]

Das heißt: Es kommt nicht auf das Geschwätz der Leute an. Es kommt darauf an, dass ich weiß, wer ich bin, dass ich mein Leben vor Gott und in Gottvertrauen lebe und damit Rechenschaft gebe von der Hoffnung, die in mir ist. Und: Es ist Teil der Schöpfung Gottes, Kinder großzuziehen, es ist Teil der Existenz von Mann und Frau. Oder: „An der Art, wie beide im Vollzug täglicher Aufgaben miteinander umgehen, zeigt sich, ob sie glauben, was sie bekennen.“[5]

►Beim Jubiläum 2017 ist deutlich: Kennzeichen der evangelischen Kirche ist, dass aus theologischer Überzeugung Frauen Pfarrerin sein können und auch Bischöfin. Es kann ein Fest werden, wenn das frohgemut sichtbar wird.

6. Überwinden von Spaltung

Das Reformationsjubiläum 2017 ist das erste nach der Leuenberger Konkordie von 1973.

Die reformatorische Bewegung selbst hat sich gespalten und immer wieder gab es im Protestantismus Abspaltungen wie etwa jüngst in der Lutherischen Kirche in den USA über die Frage der Homosexualität.

In Europa gab es mit der Leuenberger Konkordie 1973 ein starkes Signal, dass und auch wie solche Spaltung überwunden werden kann. Trotz aller Differenzen können sich Reformierte, Lutheraner und Unierte auf der Grundlage der Konkordie gegenseitig als Kirchen anerkennen, die Ämter anerkennen und miteinander Abendmahl feiern. Auch wenn diese Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen manches Mal als „Minimalökumene“ diskreditiert wurde und Kardinal Kasper erklärt hat, die römisch-katholische und die orthodoxe Kirche könnten dieses Modell nicht mitvollziehen: Es ist ein gelebtes Modell, Spaltung zu überwinden. Das Verschiedene muss nicht trennend sein.

►Das Reformationsjubiläum 2017 kann die Leuenberger Konkordie als gelebtes Modell Spaltung zu überwinden hervorheben, das ist ein Grund zum Feiern.

7. Bildung

Das Reformationsjubiläum 2017 ist das erste, das in einer Zeit gefeiert wird, in der die historisch-kritische Methode der Bibelexegese weitgehend anerkannt ist.

Die Vorstellungen des Mittelalters hinter sich lassend ging es Luther in der Wahrnehmung der „Freiheit eines Christenmenschen“ darum, dass jede Frau und jeder Mann eigenständig den Glauben an den dreieinigen Gott bekennen kann und verstehend das Bekenntnis zu Jesus Christus bejaht. Die Voraussetzung für einen mündigen Glauben war für Luther, dass jede und jeder selbst die Bibel lesen konnte und so gebildet war, dass er den Kleinen Katechismus, das Bekenntnis für den alltäglichen Gebrauch, nicht nur auswendig kannte, sondern auch weitergeben konnte und damit sprachfähig im Glauben war. Grundlage dafür war eine Bildung für alle und nicht nur für wenige, die es sich leisten konnten oder durch den Eintritt in einen Orden die Chance zur Bildung erhielten.

Bildungsgerechtigkeit und Bildungsteilhabe – Martin Luther war der erste, der diese Themen öffentlich machte und sich vehement dafür einsetzte. Er hatte dafür theologische Gründe: Glaube war für ihn gebildeter Glaube, also ein Glaube nicht aus Konvention und nicht aus spiritueller Erfahrung allein, sondern durch die Bejahung der befreienden Botschaft des Evangeliums. Dass Glauben immer gebildeter Glauben ist, ist in seiner eigenen Biographie tief begründet. Nur durch das intensive theologische Studium der Bibel, aber auch von Augustinus-Schriften ist er zur befreienden Rechtfertigungseinsicht gelangt. Glaube ist für Luther immer eigenverantwortlicher Glaube: Der einzelne Christ muss sich vor Gott verantworten und ist als einzelner von Gott geliebt. Die Kirche ist die Gemeinschaft der Getauften, aber nicht mehr die Heilsmittlerin für den Einzelnen. Glauben als gebildeter und eigenverantwortlicher Glaube ist der wesentliche theologische Beweggrund dafür, dass Luther sich vehement für eine öffentliche Bildung einsetzte, damit alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit zur Bildung erhielten. Luther verdanken wir in Deutschland die Volksschulen als „Schulen für alle“ – es ist interessant, aber von seinem theologischen Ansatz her nur konsequent, dass er sich selbstverständlich auch für die Bildung von Mädchen einsetzte.

Der Schwerpunkt Bildung gilt für alle Reformatoren: Melanchthon war Lehrer aus Leidenschaft, ja, wird auch aufgrund seiner Bemühungen um eine Universitätsreform als „Lehrer der Deutschen“ bezeichnet. Martin Bucer wird von Lutheranern wie von Reformierten als Kirchenlehrer angesehen. Ulrich Zwingli lernte Griechisch, um das Neue Testament im von Erasmus von Rotterdam editierten Urtext lesen zu können. Er selbst besaß die für damals sehr große Zahl von 100 Büchern und gründete in seiner Glarner Pfarrei 1510 eine Lateinschule. Und dann das Genfer Kolleg, von Johannes Calvin gegründet, das die reformierte Bildungsbewegung in viele Regionen Europas brachte!

Das war und bleibt reformatorisches Anliegen: Denken, Reflektieren, Nachdenken, Verstehen können, Fragen dürfen. Stattdessen wird der Religion bis heute die Haltung unterstellt: nicht fragen, schlicht glauben! Fundamentalismus – ob jüdischer, christlicher, islamischer oder hinduistischer Prägung – mag Bildung und Aufklärung nicht. Jedweder Ausprägung von Fundamentalismus stellt sich eine Kernbotschaft der Reformation entgegen: selbst denken! Frei bist du schon durch die Lebenszusage Gottes. Im Gewissen bist du niemandem untertan und unabhängig von Dogmatik, religiösen Vorgaben, Glaubensinstanzen.

Vielleicht ist einer der wichtigsten Beiträge der Reformation, dass es ihr um gebildeten Glauben geht, einen Glauben, der verstehen will, nachfragen darf, auch was das Buch des christlichen Glaubens betrifft, die Bibel. Es geht nicht um Glauben allein aus Gehorsam, aus Konvention oder aus spirituellem Erleben. Sondern es geht um das persönliche Ringen um einen eigenen Glauben.

Heute können wir sagen, dass dieses Bibellesen auch beinhaltet, die Entstehung der biblischen Bücher wahrzunehmen, historisch-kritische Exegese zu betreiben. Kürzlich schrieb mir ein Student, nachdem ich in Wittenberg in einer Fernsehpredigt gesagt hatte, wir wüssten nicht genau, wer den Epheserbrief geschrieben habe, er könne mir da helfen, es sei ganz einfach, am Ende stehe doch: Paulus.

►Beim Reformationsjubiläum 2017 muss deutlich sein: Den Kirchen der Reformation geht es um gebildeten Glauben und der schließt auch den historisch-kritischen Blick auf den biblischen Text ein. Diese Horizonterweiterung lässt sich feiern.

8. Freiheit

2017 wird das erste Reformationsjubiläum sein, bei dem es in Deutschland, ja in den meisten Staaten der Welt eine klare Trennung von Kirche und Staat gibt und ein klares Bekenntnis zu Verfassung und Menschenrechten.

Luthers Freiheitsbegriff hat in der Weiterentwicklung zu mancher Freiheit heute geführt. „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ als Schlagworte der französischen Revolution haben im Gedanken der Freiheit eines Christenmenschen durchaus Wurzeln, auch wenn die Aufklärung oftmals gegen den Widerstand der Kirche als Institution durchgesetzt werden musste. Die Frage wird sein, ob Christinnen und Christen sich ihres Erbes bewusst genug sind, um energisch für die Freiheit einzutreten – für die eigene, aber vor allem auch für die Freiheit des und der Anderen. Es geht zuallererst um die Freiheit, die uns Christus schenkt. In der Konsequenz geht es immer auch um Freiheit des Gewissens, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit.

Wir können heute als zentrale Leistung der Reformation sehen, dass Glaube und Vernunft beieinander bleiben und auch den Weg zur Aufklärung vorbereitet haben, so sehr sich die Kirchen lange gegen sie gesträubt haben. Wir sagen heute: Es ist gut, dass Staat und Religion getrennt sind – für beide Seiten! Eine Art „Gottesstaat“ oder auch „Diktat der Religion“ fördert die Freiheit nicht. Gott sei Dank leben wir in einer freien Gesellschaft, in der Menschen Mitglieder einer Religionsgemeinschaft sein können oder nicht. Das entspricht der „Freiheit eines Christenmenschen“.

Das hat auch politische Konsequenzen. Nach der Erfahrung des Versagens der Kirche und auch ihrer Verführbarkeit in der Zeit des Nationalsozialismus wurde gelernt, dass Kirche zum freien Wort greifen muss, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Das sind Erfahrungen der Kirche in der DDR. Das sind auch Erfahrungen in aller Welt: in Südafrika, in Argentinien, im Iran etwa.

►Das Reformationsjubiläum 2017 muss auch die politische Dimension des reformatorischen Freiheitsbegriffes aufzeigen. Wir können feiern, dass sie heute lebendig ist

9. Rechtfertigung

2017 feiern wir Reformationsjubiläum in einer Leistungsgesellschaft.

Luthers Frage nach dem gnädigen Gott verstehen viele Menschen auf Anhieb heute nicht. Aber die Frage, ob ihr Leben Sinn macht, treibt sie um. Was, wenn ich nicht mithalten kann, weil ich keinen Arbeitsplatz habe, nicht genug verdiene, nicht gut genug aussehe? Die Lebenszusage, die Luther gefunden hat: Gott hat dir schon lange Sinn zugesagt, ganz gleich, was du leisten kannst, gilt es für unsere Zeit zu übersetzen. Du bist eine angesehen Person, weil Gott dich ansieht. Dein Lebenskonto ist schon in den schwarzen Zahlen und nichts, was du tust, nichts, woran du scheiterst, kann es vor Gott in die roten Zahlen bringen. Die innere Freiheit, die eine solche Grundüberzeugung mit sich bringt, kann sich auch heute zeigen.

►Das Reformationsjubiläum 2017 wird die Diskrepanzen der Erfolgsgesellschaft deutlich formulieren können. Das ist eine Zeitansage, die Anlass gibt, unser Erbe zu feiern.

10. Globalisierung

2017 wird das erste Reformationsjubiläum in globalisierter Perspektive gefeiert.

Wir leben in einer globalisierten Welt. Aber das war durchaus auch im 16. Jahrhundert schon der Fall. Wer etwa die Unterlagen über den Reichstag zu Worms 1521[6] näher betrachtet, begreift, dass Luthers Auftritt dort zwar ein gewichtiges, aber nur eines der Themen war. Kaiser Karl V. strebte eine Reichsreform an. Belgrad war durch Sultan Süleyman I. erobert worden, die so genannte „türkische Bedrohung“ war ein entscheidendes Thema. Die Sicherung der Herrschaft im Bereich Spaniens war entscheidend auch mit Blick auf die Kolonien. Im Königreich Valencia war es zu sozialrevolutionären Bewegungen gekommen. Der Blick war auch auf Großbritannien, Frankreich und Italien gerichtet. Wir können sehen, dass angesichts der europäischen Expansion vor allem durch die iberischen Gesellschaften Luther selbst eine sehr eingeschränkte Weltsicht hatte. Heinz Schilling schreibt in seiner neuen Biografie: „Das Weltbild des Reformators [blieb] bis zu seinem Tod kontinental und von den neuen Welten seltsam unberührt“[7]. Und doch war die Reformation ein europäisches Ereignis, das bald internationale Ausmaße annahm.

►Das Reformationsjubiläum 2017 ist in einer globalisierten Perspektive zu sehen. Wir können feiern, dass die Wiederentdeckung des Evangeliums sich in alle Welt verbreitet hat.

Das sind zehn Hinweise, welche Akzente das Reformationsjubiläum 2017 für Kirche und Gesellschaft setzen können: Vielfalt, Ökumene, Dialog der Religionen, Konzentration in säkularer Zeit, die Rolle der Frauen, Spaltung, Bildung, Freiheit, Rechtfertigung in der Leistungsgesellschaft und Globalisierung. Die Lutherdekade als Weg dorthin kann dazu beitragen, das zu entfalten. Die Evangelische Kirche in Deutschland freut sich, dass es kein innerprotestantisches Jubiläum sein wird, sondern eines, das offen ist für die weltliche Beteiligung, die ökumenische Dimension und den internationalen Horizont. Das ist neu. Und der richtige Akzent, um im 21. Jahrhundert einen Auftakt zu setzen für die beständig notwendige Erneuerung der Kirche. Denn wie sagten schon die Reformatoren: Ecclesia reformata semper reformanda.

[1] Vgl. Hartmut Lehmann, Die Deutschen und ihr Luther, FAZ 26.08.08, Nr. 199, S.7.

[2] Vgl.: Weihbischof kritisiert Ablasshandel zu Luthers Zeiten – Jaschke: Katholiken akzeptieren Luthers Thesen, in: epd Zentralausgabe 212/31.10.2008, S.11f.

[3] Ute Gause, Antrittsvorlesung, unveröffentlichtes Manuskript, S. 2.

[4] EL WA 10, 296f. (Scharffenorth. S. 219)

[5] Gerta Scharffenorth, Freunde in Christus, in: „Freunde in Christus werden…“, hg.v. Gerta Scharffenorth und Klaus Thraede, Gelnhausen 1977, S. 183ff.; S. 220.

[6] Vgl. Der Reichstag zu Worms von 1521, hg. v. Fritz Reuter, Worms 1971.

[7] Heinz Schilling, Martin Luther, München 2012, S. 26.