Reformation. Erbe und Verpflichtung

Reformation. Erbe und Verpflichtung

Evangelisch-Sein im Lande von Jan Hus und Hieronymus von Prag heute

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Im Osten der Tschechischen Republik liegt Valašsko, die Walachei, eine Gegend, in der es noch fast so etwas wie eine evangelische Volkskirche gibt. In so gut wie jedem Ort steht eine evangelische Kirche mit Turm und daneben ein Pfarrhaus. Jeden Sonntag versammeln sich hier Hunderte von Menschen zum Gottesdienst in den Gemeinden der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder. In vielen Orten gibt es gute Beziehungen zwischen Bürgergemeinde und Christengemeinde. Man lebt zusammen wie in einer großen Familie. Zum Beispiel in Kateřinice. Zwei Kilometer entfernt finden wir die Gemeinde Ratiboř. Zwei Gemeinden, die durch ein Pfarrersehepaar viele neue Impulse bekommen haben. Seit fünf Jahren veranstalten die Gemeinden jeden Sommer ein musikalisches Jugendcamp mit Handglocken. Mädchen und Jungen, die gerade in die Schule gekommen sind, sind hier genauso dabei wie Jugendliche um die zwanzig. Auch dieses Jahr sind wieder fünfzehn Jugendliche mit ihrem Handglocken-Lehrer aus dem amerikanischen Pittsburgh in die Walachei gekommen, um gemeinsam mit den jungen Leuten aus Tschechien und auch aus der Slowakei eine Woche lang zu musizieren. Achtzig Jugendliche sind es dieses Jahr, die sich in der örtlichen Schule einquartiert haben und nun miteinander üben und feiern, um am Ende der Woche in einem Gala-Konzert in der Kirche von Ratiboř den Menschen eine Freude zu machen. Am Sonntag treffen sich alle in der Kirche. Die Gäste und die Einheimischen feiern mit einander Gottesdienst. Der Bürgermeister bedankt sich bei den Gästen für den Unterricht, für die Liebe und Sorgfalt bei der Gestaltung des gemeinsamen Programms. Es ist faszinierend, was hier möglich ist – in Tschechien, in einem Land, von dem man sagt, dass es zu den säkularsten Ländern der Welt gehört. Eine Tour durch die 250 Gemeinden der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder in Tschechien hätte noch viele weitere Überraschungen zu bieten, was in so einer kleinen Diaspora-Kirche mit gerade einmal 80 000 Gemeindegliedern (also weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung) alles möglich ist. Und ohne Zweifel ist dies auch in anderen Kirchen der Tschechischen Republik der Fall. Alle Kirchen sind eine Minderheit. Die größte Kirche in Tschechien ist die römisch-katholische Kirche. Doch auch ihre Mitgliederzahl liegt nur bei ca. zehn Prozent der Gesamtbevölkerung.

Die EKBB ist klein, aber sie lebt und engagiert sich, versucht, in der säkularen Gesellschaft das Evangelium zu verkündigen und zu leben. Es gibt viele Gemeinden, die sehr lebendig sind und zuversichtlich in die Zukunft schauen, auch wenn sie in bescheidenen Verhältnissen leben. Es kommen neue Leute dazu, Jugendliche, junge Familien, auch Ältere. Sie lassen sich taufen und machen aktiv mit in der Gemeinde. Freilich gibt es auch Gemeinden, die immer kleiner werden und nach menschlichem Ermessen keine Zukunft mehr haben. Sie werden sich in den nächsten Jahren mit größeren Gemeinden zusammenschließen, um so nicht ganz aufzuhören.

Die EKBB in ihrer heutigen Gestalt gibt es seit Dezember 1918. Sechs Wochen nach der Gründung der Tschechoslowakei haben sich die tschechisch-sprachigen reformierten und lutherischen Gemeinden zusammengeschlossen, nachdem sie nun frei über ihre Gestalt entscheiden konnten, während ja vorher die Kirchen von Wien aus geleitet wurden – im Rahmen der Habsburger Monarchie. Man knüpfte an die böhmische Reformation an und besonders an die Brüderunität, die aus der böhmischen Reformation hervorgegangen war. Nach ihr hat sich die neue Kirche auch den Namen gegeben. So haben in der EKBB von Anfang an verschiedene Traditionen ihre Heimat, lutherische Gemeinden gibt es neben reformierten Gemeinden – bis heute. In der EKBB sind auch verschiedene geistliche Traditionen zu Hause, eher konservative und ebenso liberale. Was sie verbindet, drückt das Symbol der EKBB schön aus: die offene Bibel mit dem Kelch. Das Studium der Bibel und die biblische Predigt sind in der EKBB fest verankert. Der Kelch erinnert an die böhmische Reformation mit ihrer tiefen Verankerung in Christus und seinem Opfer für uns, für die Welt.

In der Zeit von Unterdrückung und Verfolgung – und davon haben die geistlichen Väter und Mütter der Böhmischen Brüder vor allem in der Zeit der Gegenreformation viel erlebt – war die Geschichte von der böhmischen Reformation über die Brüderunität bis in die Zeiten des Sozialismus sehr wichtig für die evangelische Identität. Heute scheint es so zu sein, dass die junge Generation dafür keinen Sinn mehr hat. Die Geschichte verliert ihre starke Identitäts-stiftende Kraft.

Dafür sind die aktuellen Herausforderungen immer vielfältiger. Auch 26 Jahre nach der Samtenen Revolution ist es für die Gemeinden immer noch nicht einfach, sich für neue Menschen zu öffnen, an die Öffentlichkeit zu gehen und zum Glauben einzuladen. Zu lange und intensiv haben die Christen in der Tschechoslowakei damit leben müssen, dass Glaube Privatsache ist und die Kirchen in der Öffentlichkeit keinen Platz haben. Doch viele Gemeinden versuchen heute die Öffentlichkeit anzusprechen durch Konzerte und die verschiedensten kulturellen Aktivitäten. Kreise für Mütter mit Kindern laden zum Mitmachen ein. Der Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt.

Ein wichtiges Angebot vieler Kirchen sind die sozialen Dienste, die Diakonie. Die Diakonie der EKBB mit ihren knapp 1500 Angestellten hat eine breite Palette von Diensten: Seniorenheime, auch besondere Abteilungen für Menschen mit Alzheimer-Erkrankungen. Einrichtungen für Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen, auch Schulen. Beratungsdienste, Jugendarbeit mit sozialen Randgruppen, ein Hospiz für Menschen in der letzten Phase ihres Lebens. Auch ein Kindergarten. Es ist eindrucksvoll, was da alles geschieht und auch von der säkularen Bevölkerung gerne angenommen wird. Die EKBB ist zusammen mit ihrer Diakonie darauf eingestellt, sich in der Flüchtlingsfrage zu engagieren. Eine Mitarbeiterin der Diakonie besucht seit Jahren die Flüchtlingslager und macht Angebote für die Menschen, die im Lager auf ihre Anerkennung als Asylanten warten. Sie berät Gemeinden, die sich hier gerne engagieren. Daneben versucht der Synodalrat, die Kirchenleitung der EKBB, in der Öffentlichkeit für Gastfreundschaft und Offenheit für Flüchtlinge zu werben. Er versucht, all denen entgegen zu treten, die die Angst vor dem Islam und allem Fremden schüren. Es ist nicht einfach, dieser Stimme Gehör zu verschaffen.

Die EKBB ist Trägerin von sechs Schulen: von einer Grundschule bis zu Fachhochschulen für Krankenpflege und soziale Dienste, nicht zu vergessen ein Konservatorium mit über hundert Schülern. Auch die Schulen sind bemüht, den Jugendlichen etwas vom christlichen Glauben zu vermitteln.

Die christlichen Kirchen in Tschechien arbeiten im Ökumenischen Rat der Tschechischen Republik zusammen. Diese Zusammenarbeit bringt Früchte. Zum Beispiel im Bereich der Militärseelsorge. Das Verteidigungsministerium hat mit dem Ökumenischen Rat und der römisch-katholischen Bischofskonferenz einen Militärseelsorge-Vertrag abgeschlossen, in dem vereinbart wird, dass die Kirchen gemeinsam Militärseelsorger entsenden, die dann im Militär ihre seelsorgerliche Tätigkeit ökumenisch verstehen. Dies hat sich sehr bewährt und von Militärseelsorgern höre ich immer wieder, dass sie diesen Dienst als sehr sinnvoll betrachten, weil sie die Möglichkeit haben, mit vielen Menschen, die noch nie etwas mit der Kirche und dem Glauben zu tun hatten, ins Gespräch kommen – über den Sinn des Lebens, über das, was unser Leben trägt. Hier gibt es missionarische Chancen, auch wenn es den Militärseelsorgern nicht erlaubt ist, direkt zu missionieren. Es gibt übrigens auch schon eine Militärseelsorgerin, die aus unserer Kirche kommt und im Augenblick in Afghanistan Dienst tut. Ähnlich wie die Militärseelsorge ist die Gefängnisseelsorge organisiert, die meist im Nebenauftrag von Gemeindepfarrern gemacht wird. Nicht unwesentlich ist auch die Krankenhausseelsorge, die viele verschiedene Formen hat, da es im Gesundheitswesen keine einheitliche Struktur gibt. Alle diese Dienste sind langfristig ganz wichtig für den Ort der Kirche in der Gesellschaft.

Neu in der EKBB ist die Einrichtung einer Stelle für einen Pfarrer für Minderheiten in der tschechischen Gesellschaft. Bis jetzt ist es eine halbe Stelle, doch die heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen würden sicher ohne Probleme auch eine ganze Stelle rechtfertigen. Der Pfarrer für Minderheiten engagiert sich für die Minderheit der Roma, die für jede Art von Unterstützung dankbar sind. Ebenso sind die sexuellen Minderheiten eine Gruppe, mit der er sich beschäftigt und zum Beispiel einen Gottesdienst im Rahmen des jährlichen Gay Pride Festivals anbietet. Er pflegt gute Beziehungen zu religiösen Minderheiten, seien es nun Juden oder Moslems. Dabei sieht er die großen gesellschaftlichen Problemstellungen genauso wie die Schicksale von einzelnen Menschen, denen er zu helfen versucht. Und dies z.B. auch bei Flüchtlingen, denen er sich in seiner Arbeit widmet und z.B. Flüchtlingslager besucht.

Eine weitere Besonderheit ist die Sorge für tschechisch-sprachige Gemeinden in Osteuropa, in Polen, in der Ukraine, in Rumänien, Serbien und Kroatien. Die Gründung dieser Gemeinden geht meist zurück auf Exulanten, die wegen ihres evangelischen Glaubens ihre Heimat verlassen mussten, da sie hier unterdrückt und verfolgt wurden. Sie haben sich über Jahrhunderte die tschechische Sprache erhalten und freuen sich, wenn Pfarrer der EKBB sie in ihrem Gemeindeleben unterstützen.

In den letzten Jahren hat sich die EKBB wie die anderen Kirchen in der Tschechischen Republik stark mit Fragen der langfristigen Finanzierung der Kirchen beschäftigt. Die Kirchen haben gemeinsam mit dem Staat verhandelt. Im November 2012 führen diese Verhandlungen zu einer gesetzlichen Regelung. Geregelt wird die Rückgabe kirchlichen Eigentums an die Kirchen. Was nicht zurückgegeben werden kann, wird durch finanzielle Leistungen abgegolten, und zwar durch jährliche Raten über einen Zeitraum von dreißig Jahren. Die römisch-katholische Kirche verzichtet dabei auf 20 Prozent des ihr zustehenden Betrags zugunsten der anderen Kirchen, denn die meisten Ansprüche hat gerade die römisch-katholische Kirche. Mit diesen Finanzmitteln sollen die Kirchen in die Lage versetzt werden, eine eigene Finanzierung aufzubauen. Die erste Rate erhielten die Kirchen im Jahr 2013. Gleichzeitig werden die Zuschüsse des Staates für die Pfarrergehälter ab 2016 jährlich um fünf Prozent gekürzt, d.h. die letzten fünf Prozent zu den Pfarrgehältern erhalten die Kirchen im Jahr 2034.

Auch wenn unsere Synode eine derartige Regelung anstrebte, so hat diese Diskussion in den letzten Jahren doch manche Unsicherheiten und Ängste im Blick auf die Zukunft in die Gemeinden gebracht. Dabei haben sich unsere Synode und der Synodalrat sehr darum bemüht, eine sachliche Diskussion in den Gemeinden und Senioraten anzuregen, wie die kirchliche Arbeit in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aussehen soll und wie wir diese Arbeit finanzieren. Die Diskussionen haben geholfen, Angst zu nehmen und realistische Perspektiven zu entwickeln.

Die Synode hat beschlossen, ca. 80 Prozent der staatlichen Restitutionszahlungen anzulegen in Fonds, Immobilien etc. 20 Prozent sind für die Unterstützung von Projekten vorgesehen, die von Gemeinden, Diakonie wie auch von der Zentralen Kirchenkanzlei vorgelegt werden können. Es sollen innovative Projekte sein, die die interessant und kreativ neue Möglichkeiten kirchlicher Arbeit fördern und missionarisch wirken. Die Projekt-Kommission hat ihre Arbeit aufgenommen und erste Projekte werden eingereicht.

Über allen anderen Fragen wird auch in den kommenden Jahren entscheidend sein, wie es den Gemeinden gelingt, die Botschaft des Evangeliums so weiterzugeben, dass sie in der säkularen Gesellschaft verstanden wird. Das ist eine wichtige Aufgabe für die Evangelisch-Theologische Fakultät der Karlsuniversität in Prag, an der die Geistlichen der EKBB ihre Ausbildung erhalten. Es ist eine Aufgabe für die Aus- und Weiterbildung von Laien und Geistlichen in den Gemeinden und Senioraten, auf die viel Wert gelegt wird. Immer wieder neu wird zu buchstabieren sein, was Rechtfertigung und Gnade heute bedeuten, wie evangelische Freiheit in einer Gesellschaft aussehen kann, in der fast alles erlaubt zu sein scheint. Es ist zu hoffen, dass auch im ökumenischen Dialog gemeinsam gute evangelische Antworten auf diese Fragen gefunden werden.

Wie begeht nun die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder das Jahr 2017, das 500. Jubiläumsjahr der lutherischen Reformation?

Dass dies nicht der Anfang der Reformation überhaupt war, das ist uns in Böhmen, in Prag, besonders bewusst. Wissen wir doch von der christlichen Reformbewegung, die sich seit den 60er Jahren des 14. Jahrhunderts hier in Böhmen entwickelt hat. Dass gerade auch die Kirche St. Martin in der Mauer, in der sich die deutsch-sprachige evangelische Gemeinde in Prag jeden Sonntag zum Gottesdienst versammelt, einer der Schauplätze dieser Reformbewegung war, regt ganz besonders dazu an, sich mit der böhmischen Reformation zu beschäftigen. Die Forderung nach der Feier des Abendmahls unter beiderlei Gestalt ist mit St. Martin in der Mauer verbunden, wurde doch gerade hier das Abendmahl mit Brot und Wein für alle im Oktober 1414 gefeiert. Neben den bekanntesten Reformatoren in Prag, Jan Hus und sein Freund Hieronymus von Prag, gibt es noch viele andere Vertreter der böhmischen Reformation, wie zum Beispiel Militsch von Kremsier, dem die Feier des Abendmahls mit Brot und Wein besonders wichtig war.

Doch das wichtigste Anliegen der böhmischen Reformation war zunächst die geistliche Erneuerung der Kirche an Haupt an Gliedern mit ganz praktischen Auswirkungen für das Leben der Kirche und den Lebenswandel der Geistlichen wie der Laien. Und dann gab es diese speziellen Themen wie zum Beispiel der Ablass. Der Ablass war eine Sache, die sowohl Jan Hus wie Martin Luther sehr scharf kritisiert haben. Es kann doch nicht sein, dass wir uns bei Gott freikaufen und für unser Seelenheil bezahlen! Und das auch nur deswegen, weil ein Papst Geld braucht, um Krieg zu führen und dann in der Zeit Luthers um den Petersdom in Rom zu bauen. Unser Heil ist keine Handelsware zwischen Gott und Mensch, sondern ein Geschenk der Gnade Gottes, die uns in seinem Sohn Jesus Christus geschenkt ist. Da die Anliegen der böhmischen Reformation und der deutschen Reformation sehr ähnlich sind, kann Luther 1519 sagen: „Wir sind alle Hussiten“. Und nachdem er die Hus´ Schrift „De ecclesia“ gelesen hatte, stellte Luther fest: „Ich habe bislang unwissentlich alles von Johannes Hus gelehrt und gehalten“.

Natürlich beschränkt sich die Reformation nicht auf Deutschland und Böhmen. Die Reformation ist eine europäische Bewegung, die sich über den ganzen Kontinent ausbreitet. Sicher gehören die Waldenser (nach dem Kaufmann Petrus Waldes) und der Oxforder Theologe, Philosoph, Pfarrer und Diplomat John Wyclif zu den frühen Reformatoren. Ihre Gedanken haben viele andere inspiriert, die dann die Reform-Gedanken weiterentwickelt haben zu dieser großen Bewegung mit ihren vielen verschiedenen Prägungen. Die Namensliste der Reformer und der Orte der Reformation ist sehr lang und es werden immer wieder neue entdeckt, die über viele Jahre in Vergessenheit geraten waren. Der Prager Kirchengeschichtler Amadeo Molnár hat für die böhmische Reformation hundert Jahre vor Luther den Begriff der „ersten Reformation“ geprägt gegenüber der bis heute oft üblichen Tradition, die Lutherische Reformation als die eigentliche Reformation zu verstehen und die die früheren Reformatoren als sog. Vorreformatoren. Das Anliegen von Molnár sollten wir sicher aufnehmen und von der europäischen Reformation sprechen mit den vielen einzelnen Reformationen in Deutschland, in Böhmen, in der Schweiz, in Frankreich, in Schottland, in den Niederlanden, im Baltikum usw. Wenn wir uns dies bewußt machen, wird uns erst deutlich, wie es wohl für uns alle ein Gewinn sein kann, den weiten Horizont der Reformation zu entdecken. Sicher bietet das Jahr 2017 dazu viele gute Anregungen.

Auf den europäischen Charakter der Reformation macht auch ein etwas ungewöhnliches Projekt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aufmerksam, das sich auf der Web-Seitedes Stationenwegs (https://r2017.org/europaeischer-stationenweg/) so vorstellt:„Ein Truck ist unterwegs durch 19 europäische Länder und sammelt Reformationsgeschichten aus 5 Jahrhunderten ein. Der Truck bringt all die Geschichten aus Sibiu und Dublin, aus Rom und Turku, aus Zürich, Villach und Schmalkalden, aus Worms, Augsburg und Osnabrück und von all den anderen Stationen nach Lutherstadt Wittenberg. "Geschichten auf Reisen" findet aber nicht nur auf den 68 Stationen zwischen 3. November 2016 und 20. Mai 2017 im Geschichtenmobil statt, sondern online jederzeit abrufbar. Begleiten Sie auf dieser Seite den Truck auf seiner Tour und erleben Sie (nach), was an Geschichten auf diesem Weg zusammen gekommen ist“. Am 22. November 2016 machte der Truck vor dem Prager Rudolfinum, am Jan-Palach-Platz, Halt.

Auch die Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa (GEKE) widmet dem europäischen Charakter der Reformation besondere Aufmerksamkeit. Sie entwickelte das Projekt „Reformationsstädte Europas“, in deren Rahmen sie an Städte der Reformation den Titel „Europäische Reformationsstadt“ verleiht. Auf einer Internet-Seite (http://reformation-cities.org/) werden diese Städte der Reformation vorgesellt. Um in diesen Kreis der europäischen Reformationsstädte aufgenommen zu werden, müssen dies Kirchen und Stadtverwaltung gemeinsam wollen. Die Verhandlungen über den Antrag auf Aufnahme der Stadt Prag in diesen Kreis sind im Gange.

Es wäre ganz und gar unangemessen, wenn wir uns mit der Reformation nur als einem wichtigen historischen Ereignis beschäftigen würden. Sicher sollten wir das gründlich tun. Doch dann müssen wir fragen, was denn heute zu reformieren wäre. Was sind die Themen, die damals wie heute für die Kirchen wichtig sind? Ganz sicher ist ein Thema die Bibel, die Heilige Schrift, die uns die Geschichte Gottes mit uns Menschen von Anfang an erschließt. In diesem Buch der Bücher finden wir die Quelle für unseren Glauben und die Grundlagen – von der Schöpfungsgeschichte über die 10 Gebote und die Propheten bis zu den Evangelien von Jesus Christus und den Glaubenszeugnissen des Apostels Paulus, um nur einige wichtige Themen zu nennen. In der Zeit der Reformation wurde der Buchdruck erfunden, breitere Bevölkerungsschichten bekamen einen eigenen Zugang zum Wort Gottes und waren nicht mehr auf die Priester und ihre Auslegung angewiesen. Heute ist das für uns selbstverständlich, dass wir alle eine oder mehrere Bibeln in unserem Bücherschrank haben. Doch nutzen wir die Möglichkeit, auch mit der Bibel zu leben? Wäre das nicht eine Gelegenheit, im Jubiläumsjahr auch der Bibel wieder größere Aufmerksamkeit zu schenken?

Damit hängt ein zweites Thema zusammen. Die reformatorische Bewegung hat der Bildung eine ganz wichtige Rolle gegeben. Wer sich in der Bibel, in Fragen des Glaubens auskennt, der hat ein gutes Fundament für sein Leben als Christ, als Christin. Und das brauchen wir für die kritische Auseinandersetzung mit unserer Zeit, mit den Herausforderungen, denen wir heute begegnen. Gehen wir noch einen Schritt weiter, dann kommen wir zum Kern der Reformation: Der lebendige Gott will eine lebendige Kirche, in der sein Heiliger Geist weht, der Menschen beflügelt zu einem Leben in Glauben, Hoffnung und Liebe. Deshalb ist das Evangelium eine frohe Botschaft – für uns und für die ganze Welt.

Die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB), in der sich ja im Jahr 1918 reformierte und lutherische Gemeinden miteinander als Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder zusammengeschlossen haben, wird sich 2017 auch mit dem Erbe von Martin Luther beschäftigen – im vorletzten Themenjahr, bevor dann im Jahr 2018 das Jubiläum „100 Jahre Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder“ diese Reihe abschließen wird.

Das Andachtsbuch der EKBB mit dem Titel „Na každý den“ auf Deutsch „Für jeden Tag“ nimmt die Erinnerung an die 95 Thesen von Martin Luther zum Anlass, das ganze Jahr „lutherische“ Themen zu bearbeiten. So beginnt es zum Beispiel für die ersten drei Monate mit dem Dreiklang „sola gratia“, „sola fide“ und „sola scriptura“, allein durch die Gnade, den Glauben und die Heilige Schrift. Im Reformationsmonat Oktober sind es direkte Zitate aus Luthers Schriften, die die Leserinnen und Leser durch den Monat begleiten. Für den September ist ein gesamtkirchlicher Tag in Ratiboř bei Vsetín zur Reformation geplant (10. September 2017) und am Sonntag danach folgt in Český Těšín (17.September) ein Tag zum Reformationsjubiläum, der zusammen mit der Schlesischen evangelischen Kirche Augsburger Bekenntnisses gefeiert wird. Ein Seminar zur Reformation in Prag und weitere Aktivitäten sind in Planung. Bleibt zu hoffen, dass das Jahr 2017 für alle Kirchen zu einem Jahr geistlicher Erneuerung wird, die auch in die Gesellschaft ausstrahlt – wo immer möglich auch in ökumenischer Gemeinschaft.

Gerhard Frey-Reininghaus, Ökumene-Referent der EKBB

Teile dieses Beitrags wurden zuerst in der Zeitschrift „Religion und Gesellschaft in Ost und West“ im Heft 12/2016 bzw. im Martinsboten, dem Gemeindebrief der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Prag (Herbst 2016) veröffentlicht.