Jan Hus. Ketzer – Märtyrer – Reformator? Oder Von der böhmischen Gans zum Wittenberger Schwan

Jan Hus. Ketzer – Märtyrer – Reformator? Oder Von der böhmischen Gans zum Wittenberger Schwan 

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1. Jan Hus

2015 jährt sich zum 600. Mal die Verbrennung des böhmischen Reformators Jan Hus auf dem Konstanzer Konzil. Nicht nur im tschechischen, sondern auch im deutschen Protestantismus wird das Andenken von Hus gepflegt – weniger als Gedenken an den eigenständigen Theologen, denn als Vorläufer Luthers.

Um Hus in seiner Bedeutung zu erfassen schauen wir ganz kurz auf das Konstanzer Konzil selbst.

Wie Sie sehen liegt die Relevanz des Konzils darin, dass es den Höhepunkt des sog. Konziliarismus bildet. Konziliarismus bedeutet: Die oberste Gewalt in der Kirche liegt nicht beim Papst, sondern bei der Gesamtversammlung der Bischöfe.

Das konnte damals auch nicht verwundern, dass es zu dieser Anschauung kam, denn das Papsttum selbst war das Hauptproblem der Christenheit. Es gab nämlich 2 Päpste, also eine massive Kirchenspaltung, dann nach gescheiterter Lösung sogar 3. Man brauchte also die Einheit, die unio der Kirche; das also musste der erste Gegenstand eines Konzils sein, die causa unionis.

Daneben gab es einen zweiten Beratungsgegenstand: die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern wie man damals sagte: deshalb sprechen wir von einer causa reformationis.

Und daneben gab es das alte und neue Problem jeden Konzils: Streit um Glaubensfragen bzw. Bekämpfung der Ketzerei. Das nennen wir die causa fidei.

Alle drei Fragen (!) nun haben zu tun mit der großen Herausforderung, nämlich der in Böhmen ausgebrochenen Ketzerei zu begegnen. Und damit wären wir auch schon bei Jan Hus angelangt, dem böhmischen Volksprediger, Kirchenkritiker und – in damaliger Sicht eben Ketzer, den man – der König hatte ihm freies Geleit versprochen – nach Konstanz zum Konzil lud, um ihn zu verhören.

Zu Jan Hus selbst will ich Ihr Gedächtnis kurz auffrischen. Um 1370 wird Jan in einfachste Verhältnisse hineingeboren worden sein, und zwar in dem südböhmischen Dorf Husinec. Und so wird dieser Jan (also Johannes) auch einfach Jan von Husinec geheißen haben, oder eben kurz Jan Hus. Wichtig für uns ist nun zu wissen, dass das tschechische husa Gans bedeutet. Das speichern wir also mal ab: Hus weckt die Assoziation: Gans.

Jan kann die ihm einzig mögliche Aufstiegschance nutzen, die sich einem intelligenten Kind eröffnen. Das ist die geistliche Laufbahn. 1390 kommt Hus also an die Prager Universität, wird 1393 Baccalar, 1396 Magister der Theologie. Und unter den Magistern ist er nicht allein, was die Verehrung des englischen Theologen John Wycliff betrifft. Dieser, bereits 1384 verstorbene Theologe aus Lutterworth, hatte die Kirche scharf kritisiert und vertrat zu den philosophischen Grundlagen der Theologie (Realismus) Anschauungen, denen sich vor allem die böhmischen (tschechischen) Gelehrten verpflichtet wussten.

Und schon wird es ein wenig kompliziert. Denn es überlagerten, wie so oft in der Geschichte, theologische und politische Fragen, denen sich soziale Fragen zugesellten.

Wenn der Magister Hus Kirchenkritik als Papstkritik vortrug, so konnte dies, wie sein Ende zeigt, höchst gefährlich werden. Aber Hus erhielt Zustimmung. Und wenn er die Sittlichkeit der Priester rügte, dann durfte er noch mehr auf Zustimmung rechnen.

Hus nun wurde aber zum Kristallisationspunkt auch einer kulturellen, dann nationalen Bewegung. Seit 1402 war Hus Prediger an der Betlehemskapelle in Prag. Kapelle heißt nun nicht „kleines Kirchlein“, sondern in diesem Fall Nebenkirche. Diese Kapelle ist ein riesiger Raum, in dem sich über 2000 Menschen versammelt haben sollen. Hier propagierte Hus die Predigt in der Volkssprache, der Sprache der einfachen Leute. Also keine Gelehrtenvorträge in Latein, keine Predigt für die Gebildeten und Kaufleute in Deutsch, sondern Predigt fürs Volk. Das ist das zweite, was wir abspeichern.

Nun war die damalige Christenheit nicht nur in Diözesen, sondern auch in Nationen organisiert. Diese „Nationen“ sind übrigens nicht identisch mit dem, was wir heute unter Nation verstehen. Das Problem war nun in Zeiten, in denen sich zwei Päpste bekämpften, dass die Nationen sich dem einen oder andern Papst anschlossen. Dieser Kampf wurde nun in Prag selbst ausgetragen, in dem es an der Universität allein vier Nationen gab. Jede Nation hatte eine Stimme. Sie ahnen nun, was kommt. Drei Nationen (darunter die „deutsche“) waren einer Meinung, eine u. z. die böhmische war anderer Meinung. Die Böhmen akzeptierten die überkommenen Mehrheitsverhältnisse nicht, sondern sie veränderten – auch im Zeichen eines neuen nationalen Hochgefühls – die „Geschäftsordnung“. Nicht die Nationen hatten eine Stimme, sondern die einzelnen Professoren. Damit hatten die Böhmen die Mehrheit nun die Mehrheit in der Prager Universität (Kuttenberger Vereinbarung).

Dass diese Geschichte für das tschechisch-deutsche Missverhältnis oft ausgeschlachtet wurde, kann ich nur andeuten.

Als Folge dieser Neuordnung der Universität verließen bis zu 1000 deutsche Studenten und Professoren Prag. Ein großer Teil ging nach Leipzig. Die jetzt (1409) in Leipzig gegründete Universität war also ein Sammelpunkt der Deutschen. Leipzig hat das genutzt, aber dass hier zugleich ein antiböhmisches Erbe begründet war, überrascht nicht.

Ich gehe davon aus, dass Sie über das Geschick des Jan Hus, wie seines noch national-radikaler eingestellten Freundes Hieronymus von Prag, informiert sind. Ob seiner ketzerischen Kirchenlehre wird Hus am 6. Juli 1415 in Konstanz verbrannt, Hieronymus von Prag ein Jahr später. Der König hatte ihnen den Schutz entzogen.

Seit 1415 und der Empörung über die Verbrennung des Hus reden wir nun von den Hussiten, den Anhänger des Hus als einer nationalen und religiösen Bewegung. Zum Symbol der Hussiten, es gibt verschiedene Richtungen, wird der Abendmahlskelch. Die Abendmahlsfrage war noch für Hus selbst nicht die wesentliche Frage gewesen. Wichtiger waren hier andere (Jan van Mies). Die Forderung des Kelchs auch für die Laien (und nicht nur für die Priester) beim Empfang des Abendmahls wird aber zum Hauptmerkmal der hussitischen „Ketzer“. 1416 wird bei den Hussiten der Laienkelch obligatorisch eingeführt, also kurz nach der Verbrennung des Hus.

Ketzer müssen bekämpft werden. Die nationale wie religiöse Dynamik der Hussiten wie der Drang, diese auszulöschen führt zu den sog. Hussitenkriegen, die als Kreuzzüge geführt werden. BILD: Konstanzer Wappen, Gräuel, Kelch, die Wahrheit wird siegen.

Freilich ist den Hussiten militärisch nicht beizukommen. Ihre teils sich verselbständigenden Feldzüge wüten vor allem in den Lausitzen und verheeren auch sächsisches Gebiet.

Das ist das dritte, was wir abspeichern. Die Hussiten sind nicht einfach evangelisch oder sonst nette und liebe Leute. Sie sind nach damaliger Auffassung Ketzer und sie sind militant, in beidem also brandgefährlich. Und sie bedrohen und verheeren sächsisches Gebiet. Und an allem ist dieser Jan Hus schuld – so glaubt man es zumindest.

2. Luther auf der Leipziger Disputation

Das alles musste ich Ihnen schildern, dass wir das Folgende überhaupt verstehen. Wir blenden nun über 100 Jahre weiter und begegnen nun Martin Luther bei einer Disputation in Leipzig, der Residenz der sächsischen Herzöge, konkret des Herzogs Georg, eines frommen und streng der katholischen Kirche verpflichtenden Fürsten, übrigens von großer Redlichkeit, auch wenn er als Gegner Luthers im protestantischen Geschichtsbild keine gute Presse hat.

Was war geschehen? Am 31. Oktober 1517 hatte Luther in Wittenberg, also im Kurfürstentum Sachsen seine 95 Thesen zur Buße in der Kirche veröffentlicht, die einen breiten Wiederhall im Reich fanden. Darunter waren auch papstkritische gewesen, aber alles blieb noch im Rahmen zeitgenössischer Kirchenkritik. Auch hier waren es politische Faktoren, die Luther, aber in Fortentwicklung seiner Lehre 1518, nicht alsbald nach Rom entschwinden ließen, wohin er vorgeladen wurde, und von wo er wohl nicht zurückgekehrt wäre.

Luthers Landesherr hatte aber durchgesetzt, dass der Mönch Luther aber in Deutschland verhört würde, ein als freundlich gedachtes Gespräch 1518 in Augsburg mit Kardinal Cajetan verschärfte aber eher die Situation.

Vor allem der Dominikaner Johannes Eck hatte Luther angegriffen; eine Disputation zu Luthers Thesen und der Theologie seiner Freunde (damals noch Andreas Karlstadt) sollte stattfinden. Dazu wurde eben Leipzig ausersehen. Eigentliche Hauptdisputanten sollten Karlstadt und Eck sein; aber Eck selbst wusste, dass Luther der gewichtigere Gegner war. So wurde dieser auch zum Hauptkontrahenten, in der Disputation selbst sprach Luther, ihm zu Seite (natürlich schweigend) stand ein erst 22jähriger Gelehrter, der Luther ständig kleine Zettelchen zusteckte, auf denen Kirchenväterzitate zu lesen waren, die Luther stützte. Dieses Jüngelchen war der ca. 1.58m große Philipp Melanchthon.

Worum ging es Eck? Sein taktisches Ziel war, Luthers 95 Thesen und deren Verteidigungs­schriften als ketzerisch zu erweisen. Das war schon gefährlich genug, denn der römische Ketzerprozess gegen Luther ruhte ja nicht.

In seiner Beweisführung stütze Eck sich dabei ganz auf die Kirchenväter und die Konzils­beschlüsse der Kirche. Zum einen wollte und konnte er Luther also mit der Tradition der Kirche entgegentreten, zum andern – und nun wurde es höchstgefährlich – suchte Eck natürlich nach dem Ketzer, dem Luthers Lehren zu ähneln schienen, das war Hus.

Taktisch war das geschickt: Wenn Luther Konzilsbeschlüsse ignorierte, hatte er schlechte Aussichten, und wie hielt er‘s mit dem verbrannten Hus, der mittlerweile vom Ketzer zum Erzketzer aufgestiegen war? Beide Fragen gehörten ja zusammen.

Luther ist – wenn man so will – mit Emphase in beide Fallen getreten, worüber Eck triumphierte. Etliche Sätze des Hus – von der gesamten Lehre hatte Luther ja noch keine Ahnung – seien sehr wohl christlich und evangelisch (im Sinne von evangeliumsgemäß) gewesen. Und seine Verbrennung zeige, dass Konzilien irren könnten. Damit war der Skandal perfekt. Während man bis heute sich an Luthers Entdeckung des Schriftprinzips auch gegen Papst und Konzil erfreut, musste das damals anders erscheinen: Luther pflichtete einem notorischen Ketzer gegen die Tradition der Kirche bei; somit hatte er sich selbst als Ketzer entlarvt. Da nützte es auch nichts, wenn Luther den Vorwurf, Hussit zu sein, weit von sich wies.

Herzog Georg rang nach Worten: „Das walt die Sucht“, soll er gesagt haben. Sicherlich nichts Freundliches war damit gemeint. Erklärte sich dieser hergelaufene Wittenberger Mönch solidarisch mit einer Bewegung, die nicht nur häretisch war, sondern als politisch militante Bewegung sein Territorium bedrohten. Seit der Leipziger Disputation bis zum Tode Georgs 1539 war dieser einer der energischsten und konsequenten Gegner der Reformation. Als er starb, sagte Luther, er habe ihn totgebetet. Auch nicht eben schön, aber vielleicht verständlich, denn es war Georg, der den Besitz von Luthers Übersetzung des NT unter Todesstrafe stellte.

Aber für die gemäßigten Hussiten, von ihnen waren zwei Zuhörer in Leipzig, wurde dieser Luther interessant. Sie berichteten zu Hause und übersandten Schriften des Hus nach Wittenberg.

3. Zwei Ketzer

Wir haben nun also zwei Ketzer, den Hus und den Luther. Wir verlassen die engere Reformationsgeschichte und fragen: Was wusste eigentlich Luther von Hus? Dazu gab viel später Luther selbst eindrucksvolle Rückblicke.

Zunächst lässt die frühe Psalmenvorlesung Luthers (1513) erkennen, dass „die Böhmen“ ihm synonym mit Ketzern war, wenngleich er ihre Sittenstrenge rühmte. 1531, in seiner zweiten großen Vorlesung über den Galaterbrief, bekannte er freimütig, dass er, im Gedanken­experiment (vor seiner reformatorischen Wende), wenn er damals in Konstanz dabei gewesen wäre, auch Holz und Stroh zur Verbrennung des Hus herbeigeschleppt hätte.

Der schönste Text ist freilich der aus einer Vorrede zu neu herausgegebenen Trostbriefen des Hus an die Böhmen niederschrieb. Dieser Text lautet in einer modernen Übertragung:

Als ich einmal, noch als junger Theologe zu Erfurt in der Klosterbibliothek auf ein Buch stieß, in dem Predigten des Johannes Hus aufgeschrieben waren, da war ich aus Fürwitz lüstern zu sehen, was dieser Erzketzer eigentlich gelehrt hätte, zumal das Buch nicht verbrannt worden und zugänglich sei. Da fand ich dann so viele Dinge, dass ich mich entsetzte, dass ein solcher Mann verbrannt worden war, der so christlich und gewaltig die Schrift auslegte. Aber weil sein Name nun mal so gräulich verdammt war, dass ich damals dachte, die Wände würden schwarz und die Sonne verlöre ihren Schein, wenn man Hus auch nur erwähnte, schlug ich das Buch zu und ging mit verwundetem Herzen weg. Ich habe versucht, mich mit dem Gedanken zu trösten: Vielleicht hat er das geschrieben, bevor er ein Ketzer wurde. Denn ich habe ja die (wahre) Geschichte des Konstanzer Konzils noch nicht gekannt. (WA 50, S. 137)

Mittlerweile aber kannte Luther diese Geschichte. Und mittlerweile kannte er auch eine der Hauptschriften des Hus: De ecclesia - Von der Kirche. Und Luther wurde bestärkt in seiner Ansicht, dass Hus im Recht gewesen sei mit seiner Bußpredigt und Kirchenkritik.

Es ist natürlich eine kaum lösbare Frage, ob der Hus des beginnenden 15. Jahrhunderts der reformatorischen Theologie eines Luther ganz und gar hätte zustimmen können. Der Abstand von ca. 110-140 Jahren ist ein epochaler.

Uns freilich interessiert die Wirkungsgeschichte, die Hus im Protestantismus nicht vergessen sein ließ, sondern aus dem theologischen Gegner und politisch Gefährlichen einen Zeugen, d.h. einen Märtyrer entstehen ließ.

4. Zwei Zeugen des Evangeliums

a) Die Einzeichnung des Hus in die Reformationsgeschichte

1531 schrieb Luther: S. (!) Johannes Hus hat von mir geweissagt, da er aus dem Gefängnis ins Böhmerland. Sie werden jetzt eine Gans braten (denn Hus heißt Gans), aber über 100 Jahren werden sie einen Schwan singen hören, den sollen (= müssen) sie leiden (= ertragen). Also: den können sie nicht umbringen. Und 1533 in einer Rede bei Tisch heißt es: So hat sich Hus‘ und meine Sache erhoben an der Frage des Ablass. Anno 1415 ist er getötet worden. Er hat’s nur zwei Jahre vorantreiben können. Nach hundert Jahren, sagt er, werdet ihr’s hören müssen, und werdet’s nicht können wehren. Und 1541 sagt Luther, Hus habe prophezeit: Über hundert Jahre (in 100 Jahren) sollt ihr Gott und mir antworten … Sie werden eine Gans braten (hus heißt Gans). Es wird ein Schwan kommen, den werden sie nicht braten. Und ist also geschehen, Anno 1416 (1415). So (auch) ging der jetzige Hader an mit dem Ablass, Anno 1517. Luther bezieht sich also auf den Bußprediger Hus.

Zwar kennt die Hus-Überlieferung auch andere Bilder. Ein anderer Vogel wird kommen, ein Falke, ein Adler. Dass sich aber die Überlieferung des Schwanes verdichtete, ist plausibel. Die weiße Gans war das zahme Tier, dass man briet. Es gab aber Vögel, die höher fliegen als die Gans. Der weiße Schwan schien der Gans ähnlich bei zugleich größter Unähnlichkeit (auch wenn man im MA Störche und Schwäne auch mal verzehrt hat). Diese Überlieferung findet sich auch bei Hieronymus von Prag, vielleicht meinte Luther ihn, wenn er „1516“ sagte.

Wichtig ist hier für uns: Die Hus-Überlieferung von der Gans und dem Schwan überlebte in der Identitätsfindung Luthers und der Reformation. Sie stärkte die Selbst- und Fremdwahr­nehmung Luthers als Propheten, d. h. geistvollmächtigen Ausleger des Willens Gottes durch die Neuentdeckung der Schrift. Diese Tradition war zunächst eine mündliche, die erst nach Luthers Tod, aber jetzt erst recht, verschriftlicht wurde.

b) evangeliumsgemäßes Abendmahl (Bild VI Abendmahl 1551)

Gemeindenah konnte man ein Hus und Luther verdanktes Programm graphisch veranschau­lichen: Fünf Jahre nach Luthers Tod, in Zeiten der Bedrückung der Evangelischen durch die kaiserliche Religionspolitik nach dem Ende des für die Protestanten katastrophalen Schmalkaldischen Krieges erschien der Druck von Hus und Luther, die beide gemeinsam das Abendmahl austeilen – übrigens ein Werk des Lucas Cranach. Der Laienkelch beim Abendmahl war den Protestanten auch nach 1548 zugestanden worden. Aber das galt es zu betonen in Zeiten, da alles auf dem Spiel stand. Und jetzt war eben nicht mehr nur Luther Zeuge des evangelischen Abendmahls, sondern auch Hus, der den Laienkelch verteidigt hatte. Und damit rückte, wenngleich historisch nicht ganz korrekt, Hus ein in die Geschichte dieser Zeit, des reformatorischen Zeitalters. Hus war Reformator, der hier dem 1525 gestorbenen Kurfürsten Friedrich d. W. das Abendmahlsbrot reicht.

Hus reicht Brot an Kurfürst Friedrich - Luther reicht den Wein an Kurfürst Johann(es) - Luther berät den ehemaligen Kurfürsten Johann Friedrich, dessen Söhne abgebildet sind. Die schärfste Form des Jenenser/Weimarer Luthertums nimmt also Hus in die Wolke der Zeugen auf.

c) Reformatorenspiele

Neue Darstellung des Alten zu jetzigen Zustimmung und Profilierung der Identität. Das führt mich zu einem weiteren Punkt der Hus-Luther-Tradition, der sogar noch in die Lebzeiten Luthers hineinreicht: das Theater. 1538 entstand aus der Feder des nicht unproblematischen Theologen Johann Agricola ein Drama zum Ketzerprozess des Hus. (alles nach Kawerau, Johann Agricola, S. 120): die Tragedia Johannis Huss, welche auf dem unchristlichen Concilio zu Costnitz gehalten, allen Christen nützlich und tröstlich zu lesen. In diesem Stück, dessen Personenverzeichnis nicht weniger als 41 Mitwirkende erfordert, kommt in 5 Akten die Zitation, Anklage, Verurteilung, Degradierung und das Martyrium des böhmischen Wahrheitszeugen zur Darstellung. Ich zitiere Gustav Kawerau, S. 121:

„Eine in schwungvollen, zorneseifrigen Worten die Büberei der antichristlichen Synagoge zu Costnitz (antijudaistisch, aber vor allem apokalyptisch) strafende Vorrede spricht den Wunsch aus, daß diese Historie, nachdem sie in Reime und in Weise einer Tragödie verfaßt sei, nun auch gelesen und gespielt werden möchte, auf daß Jedermann, jung und alt, dieses gräulichen Lästers, nämlich des Antichrist, und aller seiner Rotte Verführung und Tyrannei von Tage zu Tage feindlicher werde. Und in der Tat gelangte das Stück am Hofe des sächsichen Kurfürsten in Torgaus zur Aufführung. Auch auf Luther wird, ohne ihn direkt zu nennen (er lebte ja noch) in der Vorrede hingewiesen. Indem dass sie (die Bösen) verhoffen, durch ihren Mord dieser Gans (des Hus) Geschrei zu stillen, erweckt Gott der Herr, wie Johann Hus zuvor verkündigt hat, diese versengte Gans wieder von den Toten auf, und geschieht eine Verwandlung, dass sie in einen schneeweißen Schwan verwandelt wird, und dieweil sie der heißeren Gans Gesang zuvor nicht haben hören wollen, so müssen sie jetzund, es sei ihnen lieb oder leid, ohn allen Dank, dieses Schwanes helle und liebliche Stimme, nicht in Böhmen allein, sondern über die ganze Welt schier hören singen und klingen.“

Ich überlasse Ihrem Urteil, ob Schwäne singen und klingen, aber es gibt ja auch Singschwäne.

Die Tragödie des Hus war das eine; die Durchsichtigkeit des Geschehens aber darzustellen für die Verheißung der Reformation, das war das andere und eigentlich wichtige. Und Luther war jetzt also der auferstandene Hus, ein Husius redivivus.

Der katholische – heute würde man sagen „Publizist“ – Simon Lemnius reagierte 1539 auf diese Tragödie des Johann Agricola ausgesprochen sensibel und humorlos, obwohl bzw. indem er diese Tragödie in Form einer Komödie beantwortete. So war es halt damals. Aber den Bildvergleich hatte er sehr wohl begriffen, wenn er für seine Polemik als Pseudonym den Namen Johannes Vogelsang wählte. Autor der Tragödie war ja ein Johannes gewesen, nämlich Agricola, und Hauptthema ebenfalls ein Johannes, nämlich Jan (Johannes) Hus. Und irgendwie ging es dem Vogelsang ja auch um den Vogelgesang einer Gans bzw. eines Schwans.

d) überzeitlicher Konsens der Evangelischen

Der gleiche überzeitliche Konsens kommt zum Ausdruck im Zeitalter des Historismus. Ein Bild will darstellen, was gewesen ist, ABER ZUR BEGRÜNDUNG des heute Notwendigen, d.h. zu Stiftung der Identität.

Dies wird deutlich am Bild Hussitenpredigt. Die verfolgten Gläubigen lauschen dem genialischen Hussitenprediger. Der Geist sprüht. Sie versammeln sich offenbar im Freien. Aber die Gemeinde erfährt Trost und Widerstandswillen gegen den im 19. Jahrhundert wieder erstarkten Katholizismus.

5. Zwei Reformatoren – Gans und Schwan

Vorhin sprach ich von Hus und Luther als zwei Ketzern. Nun hat sich das Blatt gewendet. Für Martin Luther war Johannes Hus selbstverständlich ein Ketzer, so hatte er es gelernt, davon war er überzeugt und hätte im Gedankenspiel seine Hinrichtung 1415 befürwortet.

Dann aber wird Hus zu einem Ketzer, der zumindest auch Recht gehabt hat. Luther zweifelt bei seinem Erstkontakt an seiner Wahrnehmung. Was er Gutes gelesen hat, muss vor dem Ausbruch der Ketzerei entstanden sein.

Dann aber wird Hus zum Zeugen der Wahrheit, der wie er selbst an der Ablasstheologie seiner Kirche irre geworden war und auch im Abendmahl den Laienkelch als schriftgemäß lehrte.

Dann wird der Ketzer zum Propheten, darin offenbar als damals und jetzt wahrer Prophet, der das Auftreten Luthers während seiner Gefangenschaft in Konstanz sieht.

Und im kollektiven Gedächtnis der bedrängten evangelischen Kirche wird Hus selbst zum Vorläufer, zum Märtyrer, zum Reformator vor der Reformation, also zum Vorreformator (wie das 19. Jahrhundert sagen wird). Das ist zweifellos nicht der ganze Hus und auch nicht der halbe Hus. Es ist der Hus, indem die deutsche Reformation einen Vorläufer erkannte und in dessen Geschick sie ihre eigene Bedrohung deutete, kanalisierte und konstruktiv wendete.

Theologisch und zugleich heilsgeschichtlich interpretiert: Die Reformation hat ihre Vorläufer in der Geschichte der Kirche. Das sind die alten die Wahrheit lehrenden Kirchenväter, soweit sie sich am Wort Gottes orientierten. Das sind die Bußprediger des Mittelalters, für die man gerne Savonarola oder eben Wycliff in Anspruch nahm.

Im 16. Jahrhundert ist diese Gans-Schwan-Tradition entstanden. Im 17. und 18. Jahrhundert hat man den Schwan Luther oft gemeinsam mit der Gans Hus dargestellt, gerade auch in Dorfkirchen. Warum gerade diesen? Die Wahrheit seiner Prophezeiung schien offensichtlich. Und die Darstellung mittels zweier Vögel didaktisch durch Bildtafeln einfach zu bewerk-stelligen.

Dass das Bild auch im weiteren Sinne tragfähig war zeigt die Aufnahme böhmischer Brüder im herrnhutischen Pietismus (dort als mährische Brüder) und die auch politisch wichtigen guten Beziehungen unserer Kirche zu den Protestanten Tschechiens.

Schließlich aber hat sich sogar die reformierte Tradition des Hus bedient. Jetzt fehlt der Schwan, aber es ist ja die ganze Riege der Reformatoren gemeint, die wir auf dem Schlussbild erkennen dürfen. Da war kein Platz für Tiere. Aber Hus und sogar Hieronymus von Prag war nun ein Platz im reformatorischen Olymp sicher – gemeinsam mit Melanchthon und Zwingli und Calvin und Okolampad. Nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Art protestantischer Seligsprechung. Der Ketzer war nun endgültig als Reformator anerkannt.

Prof. Dr. Johannes Ehmann, Heidelberg