Daniel Bartoň ist Absolvent der Fakultät für Rechtswissenschaften der Karls-Universität Prag.
Er studierte außerdem Ökumenische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Karls-Universität (ETF UK) und an der University of Cambridge sowie in Athen und Paris. Derzeit arbeitet er als selbstständiger Anwalt in Prag und als Fachassistent an der ETF UK. Sowohl als Rechtsanwalt, als auch in der akademischen Praxis konzentriert er sich vor allem auf die Themen Religionsfreiheit, Menschenrechte und Hilfe für Opfer von Straftaten. Er arbeitet auch mit dem Verein „Někdo ti uvěří“ (Jemand glaubt dir) zusammen. Als Hilfspfarrer ist er außerdem bei der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder tätig.
Auf Böses in irgendeiner Form stoßen Sie täglich bei Ihrer Arbeit. Ist das nicht niederschmetternd?
Schlimmer als mit dem Bösen zurechtzukommen ist es meiner Meinung nach mit den Folgen des Bösen fertig zu werden. Ich stehe in engem Kontakt zu Opfern verschiedener Formen von Gewalt und die sind als Folge von bösen Handlungen am Boden zerstört. Damit muss ich dann irgendwie arbeiten.
Woher schöpfen Sie die Motivation immer weiter gegen das Böse zu kämpfen?
Wenn ich sehe, dass man durch langfristiges Wirken die Folgen des Bösen beseitigen oder abschwächen kann, dann ist das allein eine Belohnung. Ein weiterer Aspekt ist, dass ich durch diese Fälle auf tolle Menschen treffe. Auf diejenigen, die durch das Böse verletzt worden sind, aber auch auf die, die versuchen das Böse zu bewältigen. Und ich würde sagen, wir ermuntern uns gegenseitig, unterstützen uns und geben einander Kraft. Dann würde ich sagen, dass für mich auch ein geistlicher Aspekt eine Rolle spielt. All das Böse kann ich in einem stillen Gebet vor Christus bringen und bei ihm lassen.
Ist für Sie der Glaube euch eine Motivation für Ihre Arbeit, sich für Schutzbedürftige einzusetzen, sich auf die Seite des Guten zu stellen?
Ja, vielleicht. Ich kann das nicht so genau beschreiben. Wahrscheinlich sitzt die Motivation tiefer. Sinn für Gerechtigkeit hatte ich schon seit meiner frühesten Kindheit. Ungerechtigkeit habe ich immer nur schwer ertragen können, genauso wie Autorität, die unverdient und aus einer Position der Macht heraus entsteht. Ich weiß nicht genau, inwiefern auch eine kirchliche Ethik meine Meinung geprägt hat.
Arbeiten Sie auch seelsorgerisch mit Ihren Klienten? Ist in der anwaltlichen Praxis Raum für Fragen der Vergebung und der Barmherzigkeit?
Viele der Gespräche mit meinen Klienten haben auch eine geistliche Ebene. Das hängt davon ab, ob diese sie wahrnehmen und darüber sprechen wollen. Wenn ja, dann sprechen wir eben darüber. Fragen der Vergebung oder danach, in was für einen Gott man nach dem, was geschehen ist, überhaupt noch glauben kann, treten häufig auf. Aber meine Rolle als Anwalt ist es sich zunächst um die rechtliche Seite der Sache zu kümmern. Ideal wäre es, denke ich, wenn sich der anderen Seite andere Sachverständige widmen. Einige Klienten wenden sich mit geistlichen Fragen an mich, obwohl sie jemanden haben, der sie darin begleitet, weil sie eine Verbindung zwischen dem Recht und dem Geistlichen spüren. Für mich als Juristen ist es wertvoll zu sehen, welche seelischen Auswirkungen eine Straftat haben kann. Das versuche ich dann auch vor Gericht oder der Polizei aufzugreifen, denn diese säkularen Organe sind sich dessen oft nicht bewusst.
Was denken Sie über die Theodizee-Frage? Warum lässt Gott zu, dass böse Dinge geschehen?
Das ist eine Frage, die ich mir häufig stelle. Ich glaube nicht an einen Gott, der Böses tut, Gewalt verübt, bestraft. Diese negativen Vorstellungen betrachte ich als Auswirkungen von Situationen, in denen wir uns von Gott entfernen, ihn irgendwo beiseiteschieben. Daraus entsteht für mich die Frage, wie wir uns in diesen Situationen wieder Gott annähern können, damit er sie verändern kann.
Die heutige Gesellschaft ist stark polarisiert. Kann man sich überhaupt noch darauf einigen was gut ist und was böse?
Das Problem besteht darin, dass ich, sobald ich versuche etwas als gut oder als böse einzustufen auf Widerstand treffe. Das ist natürlich frustrierend. Die Frage ist aber, was den anderen dazu führt auf meine Einstufung negativ zu reagieren. Ich bin voll Hoffnung, dass wenn wir genügend Zeit und Kraft dem Gespräch miteinander widmen, die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass wir uns einigen.
Sie vertreten als Rechtsanwalt auch Opfer sexueller Gewalt. Was hat Sie zu dieser beruflichen Spezialisierung geführt?
Es begann damit, dass in meinem Büro ein Opfer von Vergewaltigung auftauchte. Als ich mich mit diesem Fall beschäftigte, wurde mir bewusst, dass unsere Gesellschaft es nicht schafft auf sexuelle Gewalt angemessen zu reagieren. Ich bin auf wirklich schlechte Ansätze seitens der am Strafverfahren beteiligten Organe (Gericht, Staatsanwaltschaft oder Polizei, Anm. d. R.) gestoßen, was mich dazu verleitet hat mich der Thematik weiter zu widmen. Inzwischen kamen mehr Opfer zu mir. Zur Spezialisierung trug sicher auch die Tatsache bei, dass meine Mandanten mich baten, ihre Sache in der Öffentlichkeit zu vertreten. Viele Opfer haben oft keine Kraft dafür ihre Geschichte in die Öffentlichkeit zu tragen.
Warum wird mit sexueller Gewalt rechtlich anders umgegangen als mit Gewalt allgemein?
Das spiegelt die Erfahrung wider, dass Eingriffe ins Intime im sexuellen Bereich oft sehr viel verheerende Auswirkungen haben. Ein Unterschied besteht zum Beispiel in den psychischen Folgen. Dadurch, dass es Straftaten gegen die Menschenwürde im sexuellen Bereich gibt, sind wir besser in der Lage die Spezifika dieser Taten zu berücksichtigen. In der Regel gehen damit auch strengere Strafen einher als bei gewöhnlichen Straftaten.
Anfang April hat das Abgeordnetenhaus in Tschechien eine Gesetzesnovelle beschlossen, die den Begriff der Vergewaltigung neu definiert. Als Vergewaltigung gilt nun nicht-einvernehmlicher Sex, und nicht wie zuvor lediglich erzwungener Geschlechtsverkehr. Was bedeutet das für die Praxis in der Zukunft?
Das ermöglicht den Organen im Strafverfahren vor allem ohne größere Probleme die Täter zu verfolgen. Darunter fallen nicht nur Situationen, die unter derzeitigem Recht Grenzfälle sind, sondern auch jene, die derzeit gar nicht erfasst werden. Wenn zum Beispiel eine Person zwar sagt, dass sie keinen Geschlechtsverkehr will, sich aber physisch nicht wehrt, dann ist derzeit das Handeln des Aggressors nicht strafbar. Die neue Definition deckt solche Fälle problemlos ab. Sie klärt auch den Begriff der Wehrlosigkeit, den zwar die aktuelle Gesetzgebung auch kennt, der aber in der Praxis sehr eng ausgelegt wurde. In der Gesetzesnovelle ist unter anderem explizit von Schockstarre des Opfers die Rede als Beispiel für Wehrlosigkeit.
Lange und intensiv wurde in Tschechien auch das Thema der Istanbul-Konvention diskutiert. Ein Teil der Gesellschaft drückte ihren klaren Unwillen darüber aus. Worin genau besteht die Kontroverse und wie erklären Sie die Ablehnung des Abkommens?
Ich glaube, den Gegnern ist es gelungen aus der Konvention ein Symbol zu machen, das für alles Negative in unserer heutigen Gesellschaft steht. Sie haben da Dinge hineininterpretiert, die dort gar nicht stehen. Damit hängen Fragen von Gender, traditionellen Werten, der traditionellen Familie zusammen, als ob die Istanbuler Konvention die weitere Existenz von Familien verhindern würde. Dabei werden bloß Familienkonstellationen bekämpft, die auf Gewalt basieren.
Fällen von sexueller Gewalt widmen Sie sich auch im kirchlichen Kontext. Wie groß ist das Problem in Tschechien?
In diesem Bereich kämpfen wir mit einer mangelhaften Datenlage. Wir wissen, dass ein nicht zu vernachlässigender Teil der Bevölkerung Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt hat, Untersuchungen zufolge 10 -50 %. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dies im kirchlichen Umfeld anders ist. Der Prozentsatz der bekannt gewordenen Taten ist außerdem sehr gering. In Tschechien werden circa tausend Vergewaltigungsfälle jährlich bearbeitet, das entspricht ganz offensichtlich nicht der reellen Zahl. Und im kirchlichen Umfeld wird aufgrund der Tabuisierung der Sexualität noch weniger darüber gesprochen.
Beobachten Sie im kirchlichen Umfeld statistische Abweichungen im Vergleich zur Restbevölkerung?
Anfälliger für Missbrauch sind solcher kirchlichen Gemeinschaften, die hierarchisch organisiert sind und in denen Machtmissbrauch Teil des Systems ist. Es gibt allerdings keine überzeugenden Daten dahingehend, dass hier a priori das Zölibat ein Problem ist. Es gibt auch zur Genüge Fälle von Missbrauch durch Personen, die nicht im Zölibat leben.
Würden Sie sagen, dass sexuelle Gewalt in der Kirche anders ist als außerhalb der Kirche? Welche Rolle spielt da der spirituelle Aspekt?
Religiöse Terminologie lässt sich auch für die Erreichung unlauterer Ziele missbrauchen. Wenn jemand aus der Position einer geistlichen Autorität heraus argumentiert, dass es für das geistliche Wachstum des Menschen notwendig ist, irgendwelche sexuellen Rituale durchzuführen, dann kann dem ein unerfahrener Laie nur schwer etwas entgegenhalten. Es gab Fälle, in denen ein Pfarrer seinen Schützlingen gegenüber behauptete, er habe für ein solches Verhalten die Erlaubnis des Vatikans. Das sind Argumente, die es so im außerkirchlichen Kontext nicht gibt.
Ein Unterschied könnte auch darin liegen, dass ein Vorfall im kirchlichen Umfeld eine ganze Gemeinschaft betrifft, weil er in enge zwischenmenschliche Beziehungen eindringt. Was kann einer solchen Gemeinschaft helfen diese Zeit zu überstehen?
Eine solche Situation ist nicht unbedingt charakteristisch für ein religiöses Umfeld. Das betrifft jede Gemeinschaft, in dessen Kern Personen mit Autorität stehen, denen vertraut wird.
Es ist wichtig mit einer solchen Gemeinschaft umzugehen wir mit einem Opfer. Das Traumaerlebnis ist bei sogenannten Sekundäropfern ganz ähnlich wie bei Primäropfern. Traumaerfahrung zu bewältigen braucht viel Zeit. Grundlegend ist es, sich der Situation ausreichend bewusst zu sein und Betroffene zu nichts zu drängen. Wir sollten ihnen zur Verfügung stehen, ob für Gespräche, fürs Zuhören oder zur Klärung der Situation.
Wie wird innerhalb der EKBB mit solchen Delikten verfahren? Über was für Instrumente verfügt die Kirche?
Die Kirche verfügt über die Möglichkeit der Seelsorge, die Mitglieder in erster Linie untereinander leisten können und sollten. Für ernstere Fälle gibt es das System der pastoralen Räte. Jeder kann dort die Überprüfung eines anderen Kirchenmitglieds (Pfarrer, Presbyter, Lehrer an der Sonntagsschule, Leiter eines Jugendlagers, etc.) veranlassen, Die Pastoralräte überprüfen dann, ob es zur Verletzung der kirchlichen Regeln kam. Diese beinhalten die Kirchenordnungen, aber auch das kirchliche Bekenntnis und die Heilige Schrift. Wenn der Pastoralrat über eine Person befindet, sie habe sich nicht an die Regeln gehalten, kann er die Ausübung bestimmter Tätigkeiten verbieten oder Abhilfemaßnahmen vorschlagen, wie z.B. Therapie oder Supervision.
Ist das System der Pastoralräte gut aufgestellt? Gelingt es, Verstöße effizient zu behandeln?
Das System wurde nicht mit dem Ziel geschaffen Fälle von Machtmissbrauch zu behandeln, schon gar nicht im sexuellen Bereich. Allein an der Tatsache, dass im Laufe der letzten Synodalsitzungen das Statut für die Pastoralräte mehrfach erneuert wurde, zeigt, dass das System nicht optimal ist. Positiv nehme ich allerdings wahr, dass es in der EKBB gelingt, Dinge, die nicht funktionieren zu benennen, Änderungen vorzuschlagen und die dann auch relativ schnell umzusetzen.
Das Statut der Pastoralräte ist keine detaillierte Verfahrensordnung, denn es wird davon ausgegangen, dass Juristen mit ihm arbeiten, die wissen wie sie Verfahren zu führen haben. Bislang haben wir aber nicht wirklich darüber nachgedacht, welche Leute wir in die Pastoralräte wählen. Idealerweise würde ein Pastoralrat möglichst breit gefächerte Kompetenzen abdecken, von Geistlichen über aktive Laien und Juristen bis hin zu Psychologen und Psychiatern. Ein weiterer Aspekt ist die Frage, welche Bedingungen wir als Kirche den Mitgliedern der Pastoralräte für ihre Arbeit zur Verfügung stellen. Die Mitgliedschaft im Pastoralrat ist eine ehrenamtliche Tätigkeit, die aber viel Zeit in Anspruch nimmt. Wenn wir wollen, dass das System professionell funktioniert, müssen wir auch die Arbeitsbedingungen der Pastoralräte verändern. Oder wir müssen eben damit leben, dass es Unzulänglichkeiten im Verfahren gibt.
Wie sollten Ihrer Meinung nach konkrete Vorfälle kommuniziert werden? Was hat Priorität, Diskretion oder Transparenz?
Beides ist wichtig. Derzeit sehe ich in der Kirche eher die Richtung Vertraulichkeit und Informationen werden nicht gestreut. Es ist sehr gut, dass Informationen nicht durchsickern, obwohl die Kirche so klein ist. Gleichzeitig bin ich aber der Überzeugung, dass man über einige Sachen nicht schweigen kann. Bis vor kurzem wurde es so gehandhabt, dass offiziell nur einem kleinen Kreis Details über Verstöße bekannt war. Deutlich mehr Menschen wussten allerdings, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. So können Informationen in Umlauf geraten, die schädlich für alle Beteiligten sind.
Es absolut angebracht, z.B. etwaiges Versagen eines Pfarrers offen und transparent zu kommunizieren, damit klar ist, worin es bestand, ob es sich wiederholt, usw. Natürlich ist es nicht nötig alle Details aufzuführen, z.B. über die Identität des Opfers, da reichen allgemeine Informationen. Das hilft uns dabei zu entscheiden, wie eventuelles weiteres Engagement der betroffenen Person zu bewerten ist. So schützen wir die Gemeinschaft vor weiteren Vorfällen.
In den letzten Jahren hat sich auch unsere Kirche dem Thema sexuelle Gewalt systematisch zugewandt. Gibt es etwas, das so gut funktioniert, dass es auch für andere eine Inspiration sein könnte?
Sehr positiv nehme ich wahr, wie die Kirchenleitung und Verantwortungsträger damit umgehen. Sie nehmen das Thema sehr ernst und wollen die Kirche verantwortungsbewusst zu einem sicheren Raum machen. Das ist nicht unbedingt Gang und Gäbe. In vielen kirchlichen Gemeinschaften spielt der Schutz eigener Interessen, der Wunsch, eingespielte Verfahren nicht zu ändern oder frühere Skandale zu vertuschen, eine größere Rolle.
Eine Kleinigkeit mit allerdings großer Auswirkung, die mich sehr erfreut, ist die Tatsache, dass es gelungen ist, in das Statut der Pastoralräte eine Unverjährbarkeit für gegen die Menschenwürde verstoßende Sexualdelikte einzuführen.
Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem in der heutigen tschechischen Gesellschaft?
Ein ernstes Problem ist die Normalisierung der Gewalt. Gewalt wird als etwas Selbstverständliches, Unvermeidbares angesehen. Es besteht die Vorstellung, dass wenn die andere Seite gewalttätig wird, dies uns dazu berechtigt ebenfalls Gewalt anzuwenden. Die Gerechtfertigung von Gewalt, z.B. im Kontext familiärer Konflikte, im politischen Kampf oder auch als „gerechte Kriege“, das alles sind Räume, die geschaffen werden für eine weitere Ausbreitung des Bösen.
von Adéla Rozbořilová
Foto Hynek Glos (Karls-Universität Prag)
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