Gemeinsam in der Dusche

19. Dezember 2023

Oft neigen wir dazu, Menschen mit geistigen Behinderungen wie Kinder zu behandeln. 

Gemeinsam in der Dusche
19. Dezember 2023 - Gemeinsam in der Dusche

Ihre physische und psychische Entwicklung, dessen Bestandteil auch die Sexualität ist, stellen wir hinten an. In der Diakonie Západ (Region Pilsen) hat man sich dazu entschieden das Tabu zu überwinden und sich dem Thema systematisch zu widmen. 

Zwischen den Klienten kam es in den Einrichtungen der Diakonie oft zu spontanen sexuellen Handlungen.  So zogen fingen die Klienten etwa an sich auszuziehen oder sich intime Körperbereiche zu zeigen. Eine der leitenden Angestellten, Václava Bláhová sagt dazu: „Wir haben abgewogen, wie wir uns dazu positionieren. Die Frage war, ob wir solche Verhaltensweisen einschränken oder tolerieren sollten.“

Auf der einen Seite steht das Recht des Klienten auf Selbstverwirklichung. Dazu gehört auch Erotik und Sex. Die Sehnsüchte und Bedürfnisse erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der sogenannten gesunden Bevölkerung. Auf der anderen Seite ist die Tatsache zu berücksichtigen, dass Menschen mit geistiger Behinderung oft nicht die geläufigen Konventionen verinnerlicht haben.  Mit ihrem spontanen Sexualverhalten können sie die Gesellschaft verschrecken. 

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In der Diakonie Západ einigte man sich darauf, dass nichts verboten sein sollte, aber dass das Sexualleben der Klienten Regeln brauchte, die für alle verständlich sind. „Wir begannen daher unsere Zusammenarbeit mit Herrn Eisner, einem der in Tschechien führenden Experten auf diesem Gebiet“, erzählt Frau Bláhová. Petr Eisner widmet sich dem Thema seit fünfundzwanzig Jahren, er absolvierte eine Ausbildung zur Arbeit mit der Sexualität in den Niederlanden. Regelmäßig führt er Weiterbildungen für Sozialarbeiter durch, gibt Aufklärungsunterricht und hilft bei der Lösung konkreter Situationen. Mit der Diakonie Západ arbeitet er seit drei Jahren zusammen. 

In jeder der fünf Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung hat die Diakonie eine sogenannte Vertrauensperson für Intimfragen ernannt. Eine davon ist zum Beispiel Jiřina Urválková. Sie hatte schon in der Familie Erfahrung mit Sexualverhalten von Menschen mit geistiger Behinderung. „Wir haben diese Dinge schon mit unserem erwachsenen autistischen Sohn besprochen, daher habe ich für die Sexualität unserer Klienten Verständnis“, sagt sie. 

Die Vertrauenspersonen müssen in erster Linie gute Beobachter sein: Sie müssen das Verhalten ihrer Klienten gut kennen und erkennen, wann es angemessen ist mit ihnen das Thema Sexualität anzusprechen. Dabei kann man sich nicht immer nur auf die Sprache verlassen, denn manche Klienten haben Verständnisschwierigkeiten und sprechen selbst nicht. Dann geschieht die Aufklärung meistens mit visuellen Hilfsmitteln. Auf unterschiedlichen Bildern lernen die Klienten Schritt für Schritt den Wert des eigenen Körpers verstehen. Sie lernen zum Beispiel, wie man andere Menschen angemessen berührt. Auf diese Weise eignen sie sich die Grenze an, bis zu der körperliche Nähe allgemein akzeptabel ist und was darüber hinaus intim ist. 

So versuchen die Vertrauenspersonen sexuelle Handlungen, insbesondere Selbstbefriedigung, in sichere und private Räume zu lenken.  Sie sprechen mit den Klienten auch über Verhütungsmittel. „Dabei ist auch die Zusammenarbeit mit den Familien notwendig“, so Václava Bláhová.

Jiřina Urválková erinnert sich daran, wie sie als Vertrauensperson in der Frage der Sexualität der erwachsenen Kinder erst das Vertrauen der Eltern gewinnen musste. Schließlich werden Themen besprochen, angesichts derer jeder ganz natürlich zunächst etwas Scheu verspürt. „Zum Beispiel hatten es Eltern einmal versäumt ihrem Sohn zu erklären, dass Frauen menstruieren. Als dieser bei seiner Partnerin, die allein nicht in der Lage war ihren Menstruationsartikel zu wechseln, Blut sah, erschrak er fürchterlich und dachte, sie würde sterben“, erinnert sich Jiřina Urválková. „Wir versuchen daher präventiv zu wirken, damit solche Situationen nicht eintreten.“

Als grundlegende Orientierung wie die Diakonie Západ mit Sex und Erotik bei ihren Klienten umgeht, dient den Eltern ein sogenanntes „Sexualitätsprotokoll“. Die Pfleger und die Eltern entnehmen dem Protokoll, dass die Diakonie Západ im Bereich der Sexualität aufklärende Arbeit leistet und welches Verhalten in den Einrichtungen der Diakonie geduldet wird und welches nicht. „Mit den Eltern sprechen wir regelmäßig über das Thema. Sie sind da unsere Partner und das funktioniert hervorragend“, freut sich Jiřina Urválková.

Ausdruck von Sexualität in der Praxis

Sexualität ist nicht irgendein „Akt“, sondern auch alles, was dazugehört - Verhalten, Hygieneregeln, Zusammenleben in der Partnerschaft. Für manche reicht es zur vollen gefühlsmäßigen Zufriedenheit, wenn er sagen kann: „Du bist mein Mädchen.“ Andere brauchen den sexuellen Akt selbst. Die Experten müssen dann in der Lage sein zu unterscheiden, mit welcher Klientengruppe sie gerade arbeiten. „Einmal hat ein Klient unserer Kollegin die Socken ausgezogen. Zunächst sah darin niemand etwas Sexuelles, eher einen Witz. Für den Klienten war es aber genau das. Wir arbeiten mit ein 25-teiligen Bildsatz von der Einladung zu einem Date bis hin zum Geschlechtsverkehr“, erklärt Jiřina Urválková.  Beide Partner erhalten diese Karten, sortieren sie in eine Reihenfolge und beschreiben bis wohin sie in der Intimität gehen möchten. Einer möchte vielleicht bis zum Kuss auf die Wange gehen, der andere bis zum Geschlechtsverkehr. Es liegt dann an der Vertrauensperson für Intimfragen, das so zu korrigieren, dass keiner der Partner in der Beziehung unglücklich ist.

Auf ein Date nach Franzensbad

Natálie und Honza sind Klienten in einer der Diakonie-Tageseinrichtungen. Sie sind ein Paar. Für beide ist es ihre erste romantische Beziehung: „Für mich bedeutet es, jemanden gern zu haben, mit jemandem einen Kaffee zu trinken, gemeinsam in die Natur zu fahren“, verrät Natálie und beschreibt, dass ihre Beziehung mit Honza sich Schritt für Schritt entwickelte. „Am Anfang wussten wir nicht, ob wir uns gegenseitig berühren können. Also haben wir uns geschrieben, angerufen, Händchen gehalten. Inzwischen küssen und umarmen wir uns, aber nur in der Nacht, wenn uns niemand sieht. Wir wollen unsere Privatsphäre haben.“ Honzas Mutter gibt zu, dass die erste gemeinsame Übernachtung des Paars in ihrer Wohnung eine Herausforderung für sie war. Gleichzeitig wusste sie, dass es ein wichtiger Schritt in deren Beziehung war und organisierte deshalb für das verliebte Paar einen mehrtägigen Urlaub. Sie brachte sie nach Franzensbad direkt ins Hotel und sprach alles zuvor mit dem Personal ab. So schuf sie dem Paar einen sicheren Raum und eine verständnisvolle Umgebung. 

„Ich freue mich, dass Natálie und ich uns in der Dusche gegenseitig den Rücken kraulen und uns sagen, dass wir uns lieben, ergänzt Honza und fasst Natálie bei der Hand.  Er war erleichtert als er feststellte, dass Natálie seine Berührungen gefallen, weil er sich am Anfang nicht sicher war, ob er sich diese Zutraulichkeiten erlauben durfte. Jedwede Unsicherheit konnte er aber mit den Angestellten der Einrichtung besprechen, die beide Partner unterstützten. Jetzt planen sie zusammen zu wohnen und sind überzeugt, dass ihnen das mit Hilfe der Familie und den Angestellten der Diakonie auch gelingen wird. 

Anita Stulíková

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